Die Initiative möchte Bund und Kantone verpflichten, mehr für unsere Lebensgrundlagen zu tun. Die Gegnerschaft dieses Anliegens ist der Ansicht, bei einer Annahme der Initiative würden wichtige Anliegen der Landwirtschaft und der Siedlungsentwicklung zu stark eingeschränkt.
Die schönen Worte durchschauen
Die wichtigen Anliegen, die bei einem Ja zur Initiative zu stark eingeschränkt würden, sollten durchleuchtet werden. Die Bauern – die zwar vom Bund für Biodiversitätsflächen entschädigt werden – verweisen auf ihren Chef (Markus Ritter, Noch-Präsident des Bauernverbands), für ihn gibt es gar keine Biodiversitätskrise (Tages-Anzeiger). Und hinter der Idee der gefährdeten Siedlungsentwicklung kann ohne viel Fantasie die Bauwirtschaft vermutet werden, sie warnt schon mal vor der drohenden Baublockade (NZZ). So einfach ist das.
Durchsicht wahren
So einfach ist es aber nicht. Zugegeben, bei dieser Abstimmung sind wir vielleicht alle etwas überfordert. Doch es kann hilfreich sein, verlässlichen Argumentationen jener Menschen zu vertrauen, die von keiner Lobbyisten-Gruppe aus dem Hintergrund gelenkt werden.
Im Dossier des UZH-Magazin Nr. 2/2024 (Universität Zürich) nehmen zwei Forscherinnen Stellung zur Annahme, dass «Klimawandel und Biodiversität … eng verknüpft» sind. Die beiden Erdsystemwissenschaftlerinnen Maria J. Santos und Gabriela Schaepman-Strub erforschen, weshalb das so ist, und erklären, was getan werden müsste, um Klima- und Biodiversitätskrise zu meistern.
Vorab: Wir sollten uns klar sein, dass wir – wenn wir über mehr oder weniger Biodiversität diskutieren – den übergeordneten Aspekt der Klimaerwärmung mitzuberücksichtigen haben. Wer also den menschenverursachten Klimawandel immer noch in Frage stellt oder ignoriert, muss hier nicht weiterlesen.
«Wenn wir die Klimaerwärmung stoppen wollen, müssen wir uns auch um die biologische Vielfalt und die veränderte Nutzung der Landoberfläche kümmern», sagt Gabriela Schaepman-Strub. Das heisst: Wenn wir über Lösungen nachdenken wollen, müssen wir diese Probleme gemeinsam erforschen, damit wir die Prozesse in der Biosphäre wirklich als Ganzes verstehen können.
An dieser Stelle fordern die beiden Forscherinnen, dass wir über disziplinäres Denken hinausgehen müssen, dazu «brauchen wir nicht nur naturwissenschaftliche Kompetenzen, sondern auch Ethik oder nachhaltige Finanzen». Jetzt dämmert uns langsam, warum die Diskussion um Biodiversität und Klima so schwierig ist.
Wenn die beiden Frauen uns aufzeigen, welche Lösungen nachhaltig sind und welche nicht, streifen sie einen weiteren Problembezirk des menschlichen Verhaltens: Nachhaltigkeit. Jetzt verstehen wir, dass nicht nur jene Menschen, die politisch oder wirtschaftlich das Sagen haben, für ihre Ideen gewonnen werden müssen, sondern auch eine Mehrheit der Bevölkerung. Denn natürlich fallen heute weder der Wirtschaft noch der Gesellschaft die Kosten für die Nutzung natürlicher Ressourcen an.
Entscheidungsgrundlagen
Das Initiativkomitee (Ja zur Initiative) geht davon aus, dass die schleichende Zerstörung unserer Natur alarmierend ist, denn ein Drittel aller Tier- und Pflanzenarten in der Schweiz ist gefährdet oder bereits ausgestorben. Die Auswirkungen auf unsere Gesundheit, auf die Wirtschaft und Zukunft unserer Kinder sind gravierend. Mit einem Ja werden Bund und Kantone verpflichtet, mehr für unsere Lebensgrundlagen zu tun.
Die Biodiversität schützt auch vor Klimawandel und Umweltkatastrophen, gesunde Wälder schützen im Berggebiet vor Lawinen und Murgängen, zudem haben in den letzten Jahren die Zersiedelung und die intensive Landnutzung stark zugenommen, was nach dem Initiativkomitee gestoppt werden müsse.
Die Argumente des Bundesrats und des Parlaments (Nein zur Initiative) suggerieren, Bund und Kantone schützten Natur, Landschaften und Ortsbilder bereits heute. Die Initiative gehe zu weit. Die Biodiversität sei zwar nach wie vor unter Druck, aber Massnahmen seien eingeleitet worden. Statt weitere Vorgaben, wie sie die Initiative verlangt, brauche es wie bisher gezielte Massnahmen.
Weitere Argumente der Gegnerinnen und Gegner: Die Initiative würde die Lebensmittelproduktion zu stark einschränken. Der Bauernverband sagt zudem, Hauptzweck des landwirtschaftlichen Bodens seien nach wie vor die nachhaltige Produktion von Lebensmitteln und die Ernährungssicherheit.
(Anmerkung des Verfassers dieses Artikels: Der Selbstversorgungsgrad ist im Jahr 2021 deutlich gesunken und beträgt brutto 52% und netto 45%. Damit liegt er so tief wie noch nie seit der Revision der Nahrungsmittelbilanz im Jahr 2007.)
Die Bauern sind sich nicht einig
Wie kommt es, dass sich die Bauern diesmal in der Beurteilung der Initiative nicht einig sind? Der Tages-Anzeiger hat zwei Personen, beides Landwirte, um ihre Meinung gebeten. Der eine, der gegen diese Initiative ist, begründet dies so: «Wegen der Ernährungssicherheit – und weil sich Landwirte bereits heute für die Biodiversität engagieren.» Er selbst habe 23 Prozent der Nutzfläche in den letzten Jahren umgewandelt, viel mehr als die 7 vorgeschriebenen Prozent. Was man dazu wissen muss: Bund und Kantone unterstützen solche Umwandlungen über das Programm Labiola mit finanziellen Vergütungen.
Die andere, die Befürworterin der Initiative ist, meint dezidiert, das Argument der Ernährungssicherheit sei zu kurz gedacht. Weiter argumentiert sie: «Wenn wir nicht im Einklang mit der Natur produzieren, wird es bald nichts mehr zu ernten geben.»
Diese Meinungen werden im gleichen Beitrag durch wissenschaftliche Statements ergänzt. Loïc Pellissier, Professor für Ökosysteme und Landschaftsrevolution an der ETH Zürich: «Besonders im Mittelland, wo intensiv Landwirtschaft betrieben wird, ist mehr als ein Drittel der Arten bedroht und die Situation verschlechtert sich weiter. Alle Indikatoren zeigen, dass die Biodiversität in der Schweiz weiter abnimmt.» Und Markus Fischer, Professor für Pflanzenökologie an der Uni Bern, sagt: «Der Biodiversität in der Schweiz geht es nicht gut, ihr Rückgang ist nicht gebremst.»
Ernährungssicherheit?
Dazu die NZZ vom 14. August 2024 unter dem Titel: «Selbstversorgung garantiert keine sichere Ernährung: Die Bauern wollen kein Ackerland für Hochwasserschutz und Biodiversität hergeben. Aber das dient nicht der Ernährungssicherheit, sondern nur ihnen selbst.» Der Journalist weist ferner darauf hin, dass die Bauern ihre tierische Produktion mit Klauen und Zähnen verteidigten, weil sie mit Milch und Fleisch die Hälfte ihrer Einnahmen erzielten.
Wer ist dafür, wer dagegen?
Im Nationalrat haben 72 mit Ja (SP, Grüne, Mehrheit der GLP) und 124 mit Nein (SVP, FDP, Grossteil der Mitte) gestimmt. Im Ständerat gab es 12 Ja bei 33 Nein.