Angesichts der weltweiten politischen Verwerfungen, der verwunderlichen Karrieren wichtiger Staatspräsidenten und des drängenden Einflusses von Globalisierung und World Wide Web in den routinegeprägten Alltag mögen sich viele Menschen fragend umsehen: Wo ist Halt zu finden, wie finden wir uns in diesem Schlamassel zu Recht? Auch einem Ökonomen, Politiker und Autoren sei es gestattet, sich seine Gedanken zu machen. Dabei kann Michael Hampes Buch „Die Lehren der Philosophie“* grossartige Hilfe leisten.
2500 Jahre später
Grosse Philosophen des alten Griechenlands vermögen auch heute Laien zu interessieren. Mich persönlich hat Sokrates (469 v.Chr. – 399 v.Chr.) schon immer in seinen Bann gezogen. Er hat keine Lehre hinterlassen, dafür Unruhe in der Stadt Athen. Seine Haltung stand oft nicht im Einklang mit gelebten Traditionen und üblichen Konventionen. Er predigte nicht als Autorität und verkündete weder ein eigenes Werk, noch irgendwelche Dogmen. Mit Vorliebe wandte er sich an die Jugend. Diese reagierte fasziniert auf den wunderlichen Aussenseiter, der sie mit Fragen zum Alltag und zur Politik eindeckte, auf die sie vorerst spontan selbstbewusst antworteten, nur um einige Fragen später feststellen zu müssen, dass ihre Antworten vorschnell, ja, bei näherem Betrachten falsch waren. Sokrates‘ Kritik mochte beissend sein und unbequem – natürlich nicht nach dem Gusto der politischen Leitfiguren Athens. Schliesslich wurde er diesen zu gefährlich und sie verurteilten ihn zum Tode. Er hätte fliehen können – doch nein, er trank den giftigen Schierlingsbecher und starb.
Diese Geschichte ist seither unerschöpfliche Quelle tiefgründiger Diskussionen. Nach wie vor sind für viele Leader solche Aussenseiter und Unruhestifter suspekt - heute würden letztere wohl Querdenker, Respektlose oder Revoluzzer genannt. Für konservative, verharrende Traditionalisten („Bewahrer“) - die goldigen, früheren Zustände verherrlichenden Konservativen - sind diese „Reformer“ unheimlich, vermeintlich fehlgeleitet, unermüdlich zu bekämpfen.
Gegen Konventionen, Triebe und Affekten
Hampe unterscheidet im Wesentlichen drei Lebensformen. Zwei, die sich von Konventionen, Trieben und Affekten leiten lassen; die eine, ohne dabei gross nachzudenken oder etwas in Frage zu stellen; die andere, dabei jedoch durch Illusionen über ihr vermeintliches Wissen sich selbst täuschend und so die Relevanz für ihr eigenes Leben verdeckend. Eine dritte Gruppe widmet sich der Entlarvung dieser verbreiteten Illusionen, dabei wohl nachhaltig beeinflusst von Sokrates.
„Die sokratische Tätigkeit wandte sich gegen Experten, die Doktrinen verwalten oder gar bemüht sind, ihr eigenes Werk zu verbreiten weil sie meinen, sich sicher zu sein wie zu sprechen und zu leben sei“.
Gewisse Politiker in der Schweiz (natürlich auch in anderen Ländern) sehen sich in eben dieser Rolle des Auserkorenen, sich im Besitz der Wahrheit wähnenden Experten. Einer von ihnen ist seit 45 Jahren bemüht, sein eigenes Werk „Definition Schweizer Freiheit und Sicherheit“ zu verbreiten. Er ist davon überzeugt, zu wissen, wie zu leben und handeln sei. Er versucht deshalb schon gar nicht, sich darüber mit anderen auszutauschen, was diese beiden Begriffe Freiheit und Sicherheit auch heissen könnten. Seine Sicht der Wirklichkeit und Wahrheit ist für ihn gleichbedeutend mit einer für jedermann gültigen Verhaltensanleitung - der wahren, der einzigen „Wirklichkeit“.
Es braucht keinen Führer
„Philosophische Tätigkeit sokratischer Provenienz richtet sich auch gegen die Lebensform derer, die geführt werden wollen, die also gesagt bekommen wollen, wie zu sprechen und zu leben sei.“ Diese sind auf der Suche nach der endgültigen Wahrheit und möchten dabei in den Besitz des richtigen Werks, der gültigen Verhaltensrichtlinien gelangen.
Auch hier sind die Parallelen über die Jahrtausende gut sichtbar. Ganz offensichtlich spricht die Botschaft des oben erwähnten Politikers von den Gestaden des Zürichsees jene Menschen an, die geführt werden wollen, indem diese bejahen, was ihr Führer vorgibt, da dies offensichtlich für sie „stimmt“. Gleichzeitig richten sie es sich in diesem Gedankenhaus bequem ein um sich zurückzulehnen, ohne sich um Alternativen, neue Einflussfaktoren oder weltpolitische Situationsveränderungen kümmern zu müssen (Mentalität: „früher war eh alles besser“).
Desillusionierung als Profit
„Somit wird klar, dass die sokratische Philosophie nicht als Theorie oder Doktrin betrachtet werden kann. Sie ist eine Tätigkeit, die auf Desillusionierung abzielt und nicht auf die Produktion von Gewissheiten. Als in diesem Sinne der Autonomie (eigene Lebensgestaltung) verpflichteter Philosoph kann Sokrates keine Vorlesung halten und kein Lehrbuch schreiben, die Darstellung einer Doktrin sind. Er würde damit zu einem Experten, einem wissenschaftlichen Theoretiker oder gar zu einem Führer werden, dem es um ein Werk und dessen Vermittlung geht.“
Heute könnte man diese Haltung so umschreiben: „Freie“ Menschen mögen keine Lebensverhaltens-Lehrbücher, auch keine Ratgeberliteratur, sie verzichten gerne auf Tipps für gute Lebensführung und demzufolge auch auf Parteibücher.
Miteinander reden
An dieser Stelle wird sichtbar, in welche Richtung die sokratische Gedankenwelt führt: Frühere Denkresultate, einstige „Wahrheiten“ oder politische Parteiparolen werden zwar zur Kenntnis genommen, doch an dieser Stelle entwickelt sich das Bemühen, seinen Gesprächspartner aufzufordern, sich nicht auf bestehende Erkenntnisse zu fixieren, sondern diese zu hinterfragen. Ausgedehnte Gespräche, im Laufe derer jede Antwort wieder mit einer neuen „Aber“ in Frage gestellt wird, können zu neuen Erkenntnissen führen.
Sein persönliches Leben reflektieren
Sich heutzutage innerhalb verschiedener Doktrinen (z.B. politischen Parteien) zu Recht finden zu müssen, ist anspruchsvoll, ja unbequem und verständlicherweise nicht jedermanns Sache. Sich ein für alle Mal für etwas zu entscheiden ist einfacher. Doch die Welt verändert sich laufend, die Lebensgewohnheiten müssen sich sinnvollerweise anpassen. Somit sind religiöse oder andere Lebenslehren statische Beeinflussungsdogmen und politische Parteirichtlinien quasi doktrinäre Führungsentscheide.
Da kann die reflektierende philosophische Tätigkeit im Gedenken an Sokrates weiterhelfen. Sie ist bestrebt, das Individuum dazu zu verleiten, aufgrund der eigenen Lebenserfahrungen reflektierend sein Leben – und damit das menschliche Leben in seiner Kultur (anders gesagt: das jetzige erlebte gesellschaftliche „System“) zu verändern.
Michael Hampe: „Die Lehren der Philosophie“ (2014), Suhrkamp