Von der Kostenwahrheit weit entfernt
Im August 2023 listete die «NZZ am Sonntag» die Resultate verschiedener spannender Preiserhebungen für landwirtschaftliche Produkte. Schon im Februar hatte SDSN Schweiz (Schweizer Netzwerk für nachhaltige Lösungen) am Ernährungsgipfel den Weg skizziert, wie sich die Verkaufspreise in unseren Supermärkten verändern müssten, sollten sie tatsächlich Kostenwahrheit widerspiegeln. Auch der Think-Tank «Vision Landwirtschaft» publizierte damals – nicht zum ersten Mal – eine Studie zur eigenartigen, «verpolitisierten» Situation für Produkte wie Rindfleisch, Käse, Mehl usw.
Wollen wir Konsumentinnen und Konsumenten unsere Umweltbilanz verbessern, unseren Nachhaltigkeitsgeboten nachleben, müssen wir zuerst unangenehme Fragen zulassen und beantworten. Angesichts der tatsächlichen Dominanz der Landwirtschaftslobby im Bundeshaus sind wir allerdings weit davon entfernt. Es sind deshalb eher Gedankenspiele, die ich hier aufzeige. Würden sie umgesetzt, kämen wir ohne TV-Werbung «Natürlich Schweizerfleisch», ohne «Kaufen Sie in der Region» und ohne «Für eine nachhaltige Milchproduktion» von Swissmilk aus.
Mythen prägen den Konsumalltag
«Konsumenten schauen aufs Falsche», stellte die NZZ im August auf der Titelseite fest. Dies heisst nichts anderes, als dass Werbung und Propaganda für Lebensmittel unser Einkaufsverhalten bestimmen – diese Werbetexte sind jedoch dazu verfasst, das beworbene Produkt zu verkaufen.
So wird etwa behauptet, regional einzukaufen sei gut für die Umwelt. Ausgeblendet wird, dass viele dieser regional produzierten Lebensmittel zur Gruppe mit dem grössten Umweltfussabdruck gehören. Oder die EU: In ihrem Regulierungswahn will sie Kaffeekapseln aus Aluminium oder Plastik verbieten. Ignoriert wird, dass «gerade diese Verpackung noch grösseren Umweltschaden verhindert» (NZZ). Ich gehe weiter unten detaillierter auf diese zwei «Mythen» ein.
Ehrliche Preise
In einer lesenswerten Serie von Beiträgen hat der Journalist Matthias Benz im August/September 2023 in der NZZ die Thematik der Mythen-Propaganda – vor allem in der Landwirtschaft – thematisiert.
In Erinnerung zu rufen ist vorab, dass die Landwirtschaft bekanntlich eine bedeutende Quelle der Treibhausgasemissionen ist, welche die Klimaerwärmung verursachen (in der Schweiz 14 Prozent dieser Emissionen). Nicht nur das: «Überdüngung und Pestizideinsatz belasten naturnahe Ökosysteme, verringern die Artenvielfalt und verschmutzen das Grundwasser» (NZZ). Diese Umweltkosten werden aktuell auf mindestens drei Milliarden Franken jährlich geschätzt – mehrheitlich durch die Allgemeinheit zu berappen.
Regional einkaufen?
Einer repräsentativen Umfrage Anfang 2023 des Bundesamtes für Landwirtschaft zufolge hielten 83 Prozent der Befragten den Kauf von regionalen Lebensmitteln für einen Beitrag zum Umweltschutz – vor allem wegen der kurzen Transportwege. «Mit dieser Einschätzung dürften die Schweizerinnen und Schweizer weit danebenliegen»(NZZ). Umweltexperten weisen darauf hin, dass Regionalität nichts mit Nachhaltigkeit zu tun hat. Ein Agrarexperte der IG Agrarstandort Schweiz präzisiert: «Biohimbeeren aus Serbien sind ökologischer als Thurgauer Himbeeren aus konventionellem Anbau.» Der Transport ist offensichtlich nicht der wichtigste Aspekt der Ökobilanz.
So bestätigen denn auch Wissenschaftler, dass der allergrösste Teil des Umweltfussabdrucks von Lebensmitteln bei der landwirtschaftlichen Produktion anfällt. Diese braucht Böden und Wasser, ist oft an Überdüngung schuld, beeinträchtigt die Biodiversität und trägt zum Klimawandel bei. Bei der Migros sind dies 80 Prozent, während der Transport nur 5–10 Prozent und die Verpackung rund 3 Prozent ausmachen.
Regulierungswut der EU
War es früher die Krümmung der Gurken, die als Symbol der EU-Regulierungswut galt, so sind es heute die Kaffeekapseln. «Die Sache mit den Kaffeekapseln hat jedoch einen Haken. Sie ist ein Beispiel dafür, dass Konsumentinnen und Konsumenten oft auf das Falsche schauen, wenn es um den Umweltschutz geht» (NZZ).
Weder Verpackung noch Transport sind hauptverantwortlich für den grossen Umweltfussabdruck. Wie wissenschaftliche Ökobilanzen immer wieder zeigen, entsteht dieser beim ressourcenintensiven Anbau des Kaffees in den Herkunftsländern. Dafür verantwortlich sind insbesondere der grosse Land- und Wasserverbrauch, der Verlust an Biodiversität und die beim Anbau entstehenden Treibhausgasemissionen.
Wir sollten weniger Fleisch konsumieren
Tierische Produkte wie Rindfleisch, Käse, Schweinefleisch, Zuchtfisch, Hühnerfleisch, Eier und Milch gehören zu den Produkten mit dem grössten Umweltfussabdruck. Diesbezüglich stehen Unternehmen, Produzenten und die Politik in der Verantwortung. Die Bundesverwaltung hat inzwischen einen ersten Gesetzesentwurf zum vermehrten Konsum von pflanzlichen Produkten verfasst, was dem Schweizer Bauernverband natürlich nicht gefällt. Wie immer ist es wichtig, dass man sich von interessierten Lobbys keinen Bären aufbinden lässt …
In diesem Zusammenhang sollten wir realisieren, dass wir in der Schweiz viele Millionen Franken jährlich buchstäblich «verbraten», indem das Schweizer Fernsehen jahraus, jahrein fragwürdige Kampagnen für «Schweizer Fleisch» oder «Käse aus der Schweiz» fährt, die durch uns bezahlt werden. Dabei wird ignoriert, dass vor allem junge Menschen immer öfter Fleisch meiden oder Mandel-, Soja- und Haferdrinks anstelle von Milch konsumieren. «Nestlé produziert in den USA heute schon Kunstmilch aus dem Labor und ein Schweizer Unternehmer stellt Käse mithilfe genetischer Baupläne her» (Sonntags-Zeitung). Im Zürcher Niederdorf isst man hervorragend tierfrei – «das Soja-Geschnetzelte hat den Big Mac verdrängt» (Tages-Anzeiger).
Der Schweizer Bauernverband mit seinem wortgewaltigen Chef Markus Ritter täte wohl gut daran, diese Konsumententrends wahrzunehmen. Wir möchten ja Milchseen und Fleischberge vermeiden.
Kostenwahrheit gefordert
Vision Landwirtschaft hat festgestellt, dass Schweizer Rindfleisch fast dreimal so teuer sein müsste, um die verursachten Umweltschäden zu decken. Und 100 Gramm Schweizer Hartkäse müsste Fr. 7.60 statt Fr. 3.60 kosten. Sogar Mehl verliert seine Unschuld. Die verdeckten Kosten belaufen sich auf 160 Prozent (Umweltschäden durch Pestizide, Dünger und – natürlich – Subventionen). Dies sind nur einige der von der «NZZ am Sonntag» im August 2023 publizierten Preiserhebungen. Die offenen Beträge bezahlen wir alle.