Wir, Schweizerinnen und Schweizer, haben ein Problem mit Europa, der EU, dem EWR. Seit langem, verstärkt seit 1992. Aus der „Anleitung zum Unglücklichsein“ von Paul Watzlawick wissen wir zwar, dass die Abwehr oder die Vermeidung einer gefürchteten Situation oder eines Problems einerseits die scheinbar vernünftigste Lösung darstellt, andererseits aber das Fortbestehen des Problems garantiert. Das Grundmuster für diese schöne Geschichte: Ein Mann klatscht alle zehn Sekunden in die Hände. Nach dem Grund für dieses merkwürdige Verhalten befragt, erklärt er:
„Um die Elefanten zu verjagen.“
„Elefanten? Aber es gibt doch hier gar keine Elefanten?“
Darauf er:
„Na also, Sehen Sie!“
Unser politisches System
„Unser politisches System will nicht Institutionen verdrängen, die anderswo in Kraft sind. Wir ahmen nicht unsere Nachbarn nach, sondern versuchen, ein Beispiel zu sein. […] Wir nörgeln nicht an unserem Nachbarn herum, wenn er es vorzieht, seinen eigenen Weg zu gehen. […] Wir betrachten einen Menschen, der am Staate kein Interesse hat, nicht als harmlos, sondern als nutzlos; und obgleich nur wenige eine politische Konzeption entwerfen und durchführen können, so sind wir doch alle fähig, sie zu beurteilen.“ Der dies sagte, lebt nicht mehr. Perikles starb vor 2442 Jahren in Athen.
Elefanten auf dem Rütli
Die Quintessenz dieser beiden Geschichten könnte so umschrieben werden: Der permanente Abwehrkampf der gefürchteten Situation (in AUNS-Bulletins, SVP-Extrablättern oder in der Weltwoche) führt zur reflexartigen Verewigung in unseren Köpfen. Dabei fühlen wir uns aber alle dazu berufen, diese politische Konzeption zu beurteilen: Solang der Übervater zur Erhaltung der Schweiz unentwegt in die Hände klatscht, wird verhindert, dass Elefanten in die Schweiz einwandern und die Rütliwiese besetzen! Da mögen jetzt nicht alle einverstanden sein.
Deshalb ein Vorschlag zur Güte: Einigen wir uns darauf, dass eine brauchbarere Strategie natürlich etwas anderes aussieht. Zum Beispiel könnte sie lauten: Die Entwicklung einer Schweizerischen Theorie („natürlich aus der Schweiz!“) durch den Versuch, Aspekte der Realität zu erklären und Konzepte für die Zukunft zu erstellen. Damit wir darunter alle das gleiche verstehen, ist der Begriff Realität zu definieren: Als Realität wird etwas bezeichnet, das keine Illusion ist, und nicht von den Wünschen oder Überzeugungen eines Einzelnen abhängt.
Falsche Befunde
Quasi als Auslegeordnung gilt es auszumustern, was an gängigen Befunden nichts taugt:
- Didier Burckhalters (Bundesrat) Mahnruf „Es gibt für die Schweiz gar keine Alternative, als den Prozess des bilateralen Wegs zu gehen“ - er ist falsch. Es gibt nie nur eine Lösung.
- Christoph Blochers (alt Bundesrat) Rückblick „So entschied sich am 6.12.1992 die Schweiz gegen die Einbindung in die Europäische Union“ – er ist falsch. Es ging gar nicht um die EU.
- Franz Blankarts Rat „Es gibt eigentlich nur eine Lösung – den EWR“ – auch er ist falsch. Siehe Punkt 1.
- Jean-Pascal Delamuraz’ (alt Bundesrat) Aussage am 6.12.1992 „Dies ist ein schwarzer Sonntag, für die Wirtschaft, für die Arbeitsplätze und für die Jugend“ – sie war falsch. Das Gegenteil traf ein, die Schweiz erlebte ein Wirtschaftswunder.
- Klaus Tschütschers (Regierungschef Liechtenstein) Feststellung „EWR ist eine riesige Erfolgsgeschichte“ – sie ist falsch. Von den sieben Gründungsmitgliedern sind nur noch drei dabei.
- Christoph Blochers Bedingung „Kein fremdes Recht, keine fremden Vögte“ – sie ist falsch. In zwanzig Jahren hat die Schweiz eine Vielzahl von Rechtsübernahmen er EU „autonom nachvollzogen“.
- Roger Köppels (Weltwoche) scharfsinnige Analyse der Abstimmung von 1992, „man muss den Bünzlis und Treichlenschwingern dankbar sein, dass sie den Weitblick und Realitätssinn hatten, den Weg der Schweiz ins europäische Trainingslager abzublocken“ – sie ist Ausdruck beschränkter, selektiver Wahrnehmungsfähigkeit.
An dieser Stelle endet die völlig subjektive Aufzählung von Missverständnissen, die seit zwanzig Jahren in der Schweiz die Europa-Diskussionen erschweren.
Eine Auslegeordnung
Unterwegs zu einer konstruktiven Debatte „Die Zukunft der Schweiz in Europa“ sind auch einige hartnäckige Vorurteile und „clevere“ Szenarien zu entsorgen. Einige von vielen lauten:
- „Die EU wird weiter zentralisiert und stärker von Berlin bestimmt“ – dieser Schluss der NZZ am Sonntag ist rein spekulativer Meinungsjournalismus. Niemand kennt zurzeit den Umriss des künftigen Europas.
- Die Lösungsvorschläge des Bundesrats an den EU-Ministerrat zur weiteren Integration der Schweiz in den EU-Binnenhandel – sie entspringen einem unrealistischen Wunschtraum. Und zudem: Abwarten als eidgenössische Königstaktik war erfolgreich, im letzten Jahrhundert.
- Die Antwort des Hauptstrategen und SVP-Vizepräsidenten auf die Frage, was die Schweiz hinsichtlich Europa konkret tun solle: „Nichts! Wir brauchen nichts Lebensnotwendiges von der EU“ – sie ist absurd. Die EU ist unser wichtigster Handelspartner – eine zentrale Basis des Schweizerischen Wohlstands. Brauchen wir die wirklich nicht?
Die EU
Die EU ist wohl mit-, wenn nicht hauptverantwortlich dafür, dass wir in Europa seit 1945 in Frieden und Wohlstand leben. Wir Älteren haben die Pflicht, dies unseren Jungen zu erklären. Wer das nicht wahrhaben will, nimmt eine ungeheure Verantwortung auf sich. Ob er das selbst einsieht, ist unklar.
Doch jetzt steckt die EU in der Klemme. Die Spätfolgen falscher Einschätzungen, Konstruktionsfehler und Betrügereien einzelner Länderregierungen sind Gründe dafür. Natürlich auch Geburtsfehler bei der Einführung des Euro. Deshalb waren im November 2012 gemäss einer Meinungsumfrage in der Schweiz 89% gegen eine EU-Mitgliedschaft und 68% gegen einen EWR-Beitritt. Dieses klare Verdickt ist verständlich. Doch es geht ja im Moment gar nicht darum.
In einzelnen EU-Ländern werden in letzter Zeit Stimmen für einen EU-Austritt lauter. Wir tun gut daran, wenn wir daraus nicht voreilige Schlüsse ziehen. EU-Mitglieder, die ihre egoistischen Anliegen aus innenpolitisch motivierter Perspektive vor die gemeinsamen Ziele Europas stellen, sind schlechte Ratgeber. Jetzt darüber zu werweissen, ob eine Zweiteilung Europas unseren aussenpolitischen Spielraum vergrössern würde, ist spekulativ. Gar daraus zu folgern, dass die Schweiz und Grossbritannien „wie füreinander geschaffen sind, da sie Europa eher als Wirtschafts-, denn als Friedensprojekt betrachten“ – entspringt der schwierig zu verstehenden Phantasie eines Journalisten.
Die Diskussion
In einem längeren Essay habe ich 1991 geschrieben: „Mehr denn je wäre eine offene Diskussion am Platz, die Politiker und Laien, Wirtschaft und Hochschulen integrierte. […] Weder Rezepte, noch Wissen, erst recht keine Lösungen, sind bekannt. Zuerst käme die Diskussion.“ Auch zwanzig Jahre nach jener aufgeregten Zeit bin ich noch immer dieser Meinung.
Doch die Schweizer Europadiskussion ist in der Politik von der Traktandenliste gestrichen worden. Man möchte sich nicht nochmals die Finger verbrennen. Und wo dennoch der Ruf erhallt - untermalt vom Beresinalied - wachsam zu bleiben, sind die Meinungen zementiert wie damals. Mit den ewig gestrigen, ausgeleierten Pro- und Kontraargumenten wird der Sache nur geschadet. Zukunftsblindheit hier und dort. Doch: Zwanzig weitere Jahre der leeren Polemik kann sich die Schweiz gegenüber Europa nicht mehr leisten.
Wer hat Recht?
Die Antwort: „Vielleicht habe ich Unrecht, und vielleicht hast du Recht. Aber wir können auch beide Unrecht haben.“ Mit seinem Standardwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ hat der Philosoph Karl R. Popper den noch immer gültigen Massstab gesetzt, wie die unrelevante Frage „wer hat Recht“ zu beantworten ist.
Des Problems Lösung?
Vielleicht liessen sich mit gutem Willen, Neugier, Einfühlungsvermögen und einer Portion Forschergeist Welten bewegen? Die der kleinen Schweiz und jene der grossen EU. Neue Entdeckungen und Lösungen sind in der Regel das Resultat gezielter Forschung, aber nicht immer. Manchmal hilft der Zufall mit. „Und sie bewegt sich doch!“ – Gemeint ist diesmal die dualistisch blockierte Schweiz des 21. Jahrhunderts. Gemeint ist auch die EU, deren Demokratie- und Föderalismusdefizite einen als alternativlos hochstilisierten, supranationalen Zusammenschluss wenig attraktiv aussehen lassen. Nichts spricht dagegen, dass beide sich doch bewegen. Vielleicht verändert sich die Schweiz, und vielleicht verändert sich die EU. Aber es können sich auch beide verändern.
Die Schweiz braucht die EU mehr, als die EU die Schweiz. 80 Prozent unserer Importe und 60 Prozent unserer Exporte (Güter und Dienstleistungen) sind EU bezogen.
Die Schweiz, Insel der Glückseligkeit? Eine Insel sollte sich nicht das Meer zum Feind machen.