Bürgerliche Kreise kritisieren die bundesrätliche Energiestrategie vehement, insbesondere die darin vorgesehenen Lenkungsabgaben. Andererseits mahnt ETH-Professor und Unternehmer Anton Gunzinger, diese Strategie sei viel zu zahm. Die laufende Diskussion um die Energiezukunft ist auch europa- und weltweit zu verfolgen.
Unergiebige Diskussion in der Schweiz
Wenn im September 2015 die Energiestrategie 2050 im Ständerat behandelt wird, ist abzusehen, dass es Kritik von allen Seiten hageln wird. Fördermassnahmen werden von der FDP und SVP kategorisch abgelehnt. SP und CVP kritisieren Details des Lenkungssystems.
Dieses politische Hickhack verspricht nichts Gutes. Die unterschiedlichen Profilierungsversuche bleiben primär in der Gegenwart stecken. Was wissen diese Protagonisten darüber, welche drastischen Veränderungen in den nächsten Jahren die Energiewelt durchschütteln werden? Und realisieren sie, dass sie nicht wissen können, was sie nicht wissen?
Derweil weist Gunzinger, der visionäre Elektroingenieur (ETH Zürich), in seinem Buch „Kraftwerk Schweiz – Plädoyer für eine Energiewende mit Zukunft“ den Weg, wie unser Land ohne Atomkraft, dafür mit erneuerbarer Energie bereits 2035 das fossile Zeitalter hinter sich lassen kann.
Stromkonzerne in der Kritik
Unsere drei grossen Stromkonzerne Axpo, Alpiq und BKW haben die Entwicklung auf dem Strommarkt verschlafen. Jetzt fahren sie jährlich grosse Verluste ein (Axpo 886 Mio. Franken im ersten Semester 2015), primär weil die happigen Abschreibungen auf früheren Investitionen (Atomkraft- und Pumpspeicherwerke) das Geschäft belasten. Solche Wertberichtigungen gehen zulasten der öffentlichen Hand, also der Steuerzahler.
Pikante Details: Der ehemalige Konzernchef der Axpo, Heinz Karrer, ist inzwischen Präsident von Economiesuisse. Dieser Dachverband bekämpft jetzt bekanntlich die bundesrätlichen Vorschläge. Auch die ehemaligen Chefs von Alpiq (Hans Schweickardt) und den BKW (Kurt Rohrbach) haben ihre sinkenden Schiffe verlassen.
Als Befürworter der bundesrätlichen Energievorschläge präsentieren sich seit kurzem aber auch Wirtschaftsverbände und Firmen unter dem Namen „Schweizer Wirtschaft für die Energiestrategie 2050“. Die Gruppierung betont die grossen wirtschaftlichen Chancen dieses Vorhabens und hebt sich bewusst vom Wirtschaftsdachverband Economiesuisse ab.
Spannende Energiezukunft
An dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf die Welt (ausserhalb der Schweiz). Der Economist widmet diesem Thema seit vielen Monaten grosse Aufmerksamkeit.
Nachfolgend geschilderte Analysen, Lösungsansätze, Erfindungen stammen – soweit sie sich auf das Ausland beziehen – aus diesem Wirtschaftsmagazin, dem weltweit mit grossem Respekt begegnet wird.
Der Fokus ist klar: Dank besserer Technologie und verbesserter Effizienz wird Energie sauberer und reichlicher. Eine neue Generation von Stromspeichern löst das Problem der „Lagerung“ überschüssiger Energie aus Wind- und Solarproduktion. Letztere wird laufend billiger und besser. Erneuerbare Energie ist keine Marotte mehr, sondern Tatsache.
Neue Generation von Batteriespeichern
Überschüssigen Strom zu speichern, bis er gebraucht wird, ist schwierig. Doch das Problem wird gelöst: riesigen Batterien, die Megawattstunden Strom aufnehmen können, gehört die Zukunft. Ein Beispiel: ein Schweizer Unternehmen startete 2014 in Concord, North Carolina. Alevo (alevo.com) begrüsst Interessierte auf seiner Homepage „Welcome to the future of Energy“ und macht klar, was sein Know-how ist: Strom zu speichern, wenn es davon zu viel; zu liefern, wenn es zu wenig gibt. Ihr Lösungsansatz einer der grossen Herausforderungen auf dem Weg in die Zukunft der nachhaltigen Energiewelt ist spektakulär. Denn das Problem ist bekannt: Einerseits wird Solar- und Windenergie in sehr unregelmässiger und deshalb unzuverlässiger Frequenz produziert, andererseits schwankt die Nachfrage. Oft ist sie dann am grössten, wenn am wenigsten produziert wird. Ein Meilenstein, diese Technologiesprung.
Neue Stromquellen
Das fünfstöckige Gebäude in Londons Notting Hill unterscheidet sich von aussen nicht von seinen Nachbarn. Doch der erste Eindruck täuscht: Es ist vollgestopft mit modernster Technik und produziert selbst mehr Energie als es verbraucht. Es symbolisiert quasi die Energiezukunft im Kleinen. Damit wird klar, dass eine drastische Wende in der Energiediskussion erreicht ist. Bedenken zur Versorgungssicherheit und Umweltbelastung brauchen diese Bewohner keine mehr zu haben.
Auch in der Schweiz gibt es seit einigen Jahren überall solche Selbstversorger, Gebäude erstellt nach modernsten Erkenntnissen, die mehr als ihren Energiebedarf selbst decken. Noch sind es Idealisten (da ca. 10% höhere Erstellungskosten), die ihre Vision verwirklichen. Doch bei tendenziell sinkenden Preisen steigen die Marktchancen.
Die dritte Generation Solartechnik existiert bereits. Durch Verwendung von Graphen, produziert auf 3D-Druckern, werden die bekannten Solarpanels auf Dächern ergänzt. Jede Oberfläche kann mittels Film- oder Farbeapplikation zum Solarpanel werden.
Fiskalpolitik ändern!
Im anhaltenden Preiszerfall von Erdöl und Erdgas sehen Fachleute eine einmalige Chance für Staaten, Kosten zu sparen um im Gegenzug nachhaltige Projekte zu fördern. Experten haben errechnet, dass 2014 Regierungen weltweit 550 Milliarden Dollar ausgaben, um Benzinpreise künstlich tief zu halten.
Auf die Schweiz bezogen, hiess das wohl, dass die Mineralölsteuer (Bundeseinnahmen gute fünf Milliarden Franken im Jahr) jetzt erhöht werden könnte, ohne dabei den Konsumenten weh zu tun. Bei sinkenden Gestehungskosten für Benzin würden ja die Preise an den Tankstellen trotzdem unverändert bleiben. Doch hier streiten sich unsere Politiker seit Jahren über die „korrekte“ Verwendung dieser Steuermittel, die Autolobby ist natürlich vehement gegen solche Ideen.
Europäische Energiepolitik ist gefordert
Auf dem Weg zu einer europäischen Energiepolitik gibt es im Wesentlichen zwei „Gegner“: Der eine ist Russland (Gazprom) mit seinen Gaslieferungen. Der andere: die nationalen Regierungen mit ihren Staatsbeteiligungen an den eigenen Energiekonzernen. Obschon klar scheint, dass zusätzliche Pipelines und Stromkabel zwischen den einzelnen EU-Ländern die Versorgungsabhängigkeit klar mindern würde, kommt die geplante Energieunion nur zögerlich voran.
Bekanntlich sind die bilateralen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU bezüglich Stromabkommen zurzeit blockiert. Auch wenn eine Einigung auf diesem Sektor im beiderseitigen Interesse läge, verweigert die EU weitere Diskussionen. Den Grund haben wir uns selbst zuzuschreiben (Zukunft der bilateralen Abkommen offen).
„Unsichtbarer“ Kraftstoff
Einmal mehr legt der Economist den Finger auf die banale Tatsache, dass die grösste Energie-Innovation – der Nichtgebrauch ist („The biggest innovation in energy is to go without“). Gemeint ist damit die Energieverschwendung als solche. Diese Einsicht bedarf keiner neuen Gesetze, weltweit. Alle sind gefordert.
Zurück in die Schweiz
Die Schweizer Industrie, sowie Forschungs- und Bildungsstätten sind am wichtigen Technologietransfer beteiligt, um Ideen zu Lösungen voranzutreiben. Portfolios der Energieforschung sind deshalb ein zentrales Element der Energiestrategie 2050 des Bundes. Studierenden öffnet sich ein grosses Fenster, um Schulbetrieb und Forschungsarbeit zu kombinieren.
Otfried Jarren, Professor an der UZH kritisierte 2014 anlässlich eines Vortrags unsere Politik. Sie verschiebe ihre selbstgestellten Probleme immer wieder, weil deren Lösung ihre Möglichkeiten überfordere. Als Beispiele nannte er auch den Energiewandel. Richten soll es dann die Wissenschaft. Doch, wie soll das funktionieren, wenn die Politik ihr Bild von dieser zu guten Teilen aufgrund der Medienberichterstattung macht, fragte Jarren gleichzeitig. Sind einige Printmedien beim Thema Energiestrategie nicht eher Propagandisten der ihnen nahestehenden politischen Parteien?
Während Swissmem auf breiter Front gegen die neue Energiestrategie Stimmung macht und dabei vom emeritierten Professor Silvio Borner sekundiert wird („Zukunftsexperimente können wir uns nicht leisten!“), sind ganz andere Töne – was die Zukunft angeht – aus dem IBM-Forschungszentrum Rüschlikon zu hören. Hier treiben Forscher im Verbund mit der Hochschule für Technik Rapperswil und anderen Partnern das interdisziplinäre, ehrgeizige Projekt THRIVE voran, das Abwärme zum Heizen und Kühlen verwendet (zurich.ibm.com/news). Zur Erinnerung: Ein Drittel des Strombedarfs wird heute in der Schweiz zum Heizen und Kühlen verwendet.
Alternativenergie zu fördern, ist ein Zukunftsexperiment, das wir uns leisten müssen. Diesbezüglich gilt die Devise: „Schaue dorthin, wo das Neue entsteht, wo sich die Zukunft ankündigt“ (glaskugel-gesellschaft.ch).
Bereits ist abzusehen, dass das Volk dereinst an der Urne über unsere Energiezukunft entscheiden wird. Es lohnt sich deshalb, schon heute darüber nachzudenken.
Weiterführende Quellen:
> alevo.com
> zurich.ibm.com/news
> glaskugel-gesellschaft.ch