Allzu lang prägte Darwins Grundprinzip „Krieg der Natur“, basierend auf bahnbrechenden Beobachtungen aus der Pflanzen- und Tierwelt, das Denken in Medizin, Eugenik, Gesellschaft und Politik. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts signalisiert die Medizin ein erweitertes Verständnis. „Die menschlichen Gene sind nicht egoistisch, sondern funktionieren als biologische Kooperatoren und Kommunikatoren.“
Ein neues Leitmotiv
Ob wir als Leitmotiv unseres persönlichen Lebens eher der alten Devise „Kampf ums Überleben“ oder der neuen Erkenntnis „Kooperation als Erfolgsstrategie“ folgen, zeigt sich – oft unbewusst oder ungewollt – im Alltag. Diese spannende Frage ist vor allem seit den neuesten Fachstudien aus der Neurobiologie überhaupt ein Thema auch für Laien. Die aktuellen Beobachtungen lassen erkennen: Der Mensch ist ein Wesen, „dessen zentrale Motivation auf Zuwendung und gelingende mitmenschliche Beziehung gerichtet ist“. Der diese Meinung vertritt, heisst Joachim Bauer (*1951), vielseitiger Arzt, Molekular- und Neurobiologe, Professor an der Alber-Ludwigs-Universität, D-Freiburg, Autor verschiedener Sachbücher.
„Streben Menschen ihre Ziele rücksichtslos an oder arbeiten sie von Natur aus lieber zusammen?“, fragt er z.B. in „Prinzip Menschlichkeit – Warum wir von Natur aus kooperieren“. Die Frage lässt sich erweitern. Viele Menschen reiben sich seit dem Krim-Vorfall die Augen, sie fühlen sich ins letzte Jahrhundert des kalten Krieges zurückversetzt. Die neoimperialistische Machtpolitik eines Wladimir Putin irritiert. In der Schweiz stehen uns die Hauptprotagonisten unterschiedlich agierender (oder agitierender) Politiker näher. Davon später. Werfen wir zuerst einen Blick auf die generellen Auswirkungen beider Menschenbilder.
Welt- und Menschenbild
Alt, bisher | Neu, zukünftig |
Fordern | Verhandeln |
Kampf | Kooperation |
Krieg | Frieden |
Machtorientiert | Demokratieorientiert |
Gegensätzlich | Versöhnlich |
Dualistisch | Integrierend |
Gewinn anstrebend | Kompromiss suchend |
Sieg als Ziel | Lösung als Ziel |
Die offensichtlichen Schwächen des alten Menschenbildes sind die beklemmenden Gegensätze und die offensichtlichen Verlierer, die sie produzieren und hinterlassen. Die einleuchtenden Vorteile des neuen Weltbildes zeigen sich in der integrierenden Kraft unterschiedlicher Meinungen und dem weltgeschichtlich überragenden Wert, Verlierer gar nicht erst entstehen zu lassen. Prestigegewinn auf der einen Seite geht einher mit Gesichtsverlust auf der anderen – können wir das überwinden?
Die Welt, wie sie nun einmal ist
Es gibt Menschen, die halten ihre Sicht der Dinge und des Weltbilds für richtig. Schlimmer noch, für wahr oder das einzig richtige. Dafür kämpfen sie ein Leben lang. Die Neurowissenschaften suggerieren allerdings seit längerem ein anderes, ganzheitlicheres Menschenbild. Ein Grossteil dessen, was uns selbstverständlich erscheint, ist in Wirklichkeit das, was wir über die Welt gelernt haben. Oder: was ich darüber gelernt habe. Wie ich sie erinnere.
„Wir Erwachsenen konstruieren unsere Umwelt in weit höherem Masse, als wir sie wahrnehmen.“ Mark Solms und Oliver Turnbull, die beiden Pioniere der Neuropsychoanalyse schildern in ihrem „Reiseführer“ zu den Fundstätten der Forschung, in ihrem Buch „Das Gehirn und die innere Welt“, ihre Erkenntnisse. Das Zusammenspiel von Gehirn und Psyche wird neu definiert. Die Beiden sind davon überzeugt, dass die Steuerung unserer persönlichen Wahrnehmung im Laufe des Lebens nach und nach von jenem in uns kodierten Wissen übernommen wird, das auf früheren, persönlichen Lernerfahrungen beruht. Sie liefern damit – als Beispiel – eine stupende Erklärung für das Phänomen „blinder Fleck“ – wir sehen gar nichts, ja, wir wollen nichts sehen, wenn die Realität unseren Erwartungen widerspricht.
Der Mensch ist lernfähig
Darin sind sich heutige Wissenschaftler mit Darwin einig: Akzeptieren wir die Forschungsresultate aus der Welt der Neurowissenschaften, so müssen wir uns wohl damit abfinden, dass es die Wirklichkeit – eben, die Welt, wie sie ist – gar nicht gibt. Für jeden Menschen widerspiegelt sich darin ein weitgehend persönlich gefärbtes Konstrukt. Kommt dazu, dass unser Bewusstsein aus Gefühlen oder Bewertungen besteht, die auf das, was in unserer Umwelt passiert, projiziert werden (Damasio).
In diese Richtung weisen auch die Befunde der beiden bekannten Linguistiker George Lakoff und Elisabeth Wehling (University of California, Berkeley). Für sie ist unser Denken ein physischer Prozess. Auf die Frage, was die Beschaffenheit unseres Gehirns bestimmt, antworten sie: unsere Erfahrung in der Welt. Was ist richtig, was ist falsch? Als Kind, als Mitglied in unserer Familie lernen wir das. Damit wird auch klar, warum Menschen so unterschiedlich denken. Wir wachsen in unterschiedlichen Kulturen auf, machen unterschiedliche kulturelle Erfahrungen und lernen deshalb unterschiedlich. Die Bilder (Metaphern), die in unserem Gehirn entstanden sind, sind verschieden.
Eine der berühmten Metaphern, die uns in diesem Zusammenhang „in den Sinn kommt“ (auch das ein persönliches Konstrukt!), ist jene der Nation als Familie. Für Putin gilt Mütterchen Russland; Obama, also Amerika, schickt seine Söhne in den Krieg. Unser Verständnis von moralischer Autorität wird dabei von der Familie auf die Politik übertragen. Was wir in unserer Familie gelernt haben, prägt auch hier unser Verständnis.
Blochers Wirklichkeit
Christoph Blocher, um in die Schweiz zurückzukehren, aufgewachsen in einem religiösen Elternhaus mit einem strengen Vater, glaubt nicht, dass die existenziellen Umstände ihn prägten. Dafür sammelt er Anker-Gemälde, denn dieser begnadete Maler „malte die Lebenswirklichkeit“. Blocher selbst meint: „Wer oder was hat uns geprägt? Es bleibt ein Rätsel. Sicher ist: Es war die Fülle des Lebens – eben die Wirklichkeit“ (DAS MAGAZIN 16/2014).
Über die Wirklichkeit und die Wahrheit wurde weiter oben geschrieben. Hält Blocher seine nationalistische Ideologie oder seinen Konservativismus für die Wahrheit? Aus seinem Verständnis heraus hat – diese Botschaft hören wir seit über 30 Jahren – das Volk immer Recht. Andreas Blocher, Christophs Bruder, schreibt dazu: „Das Volk aber verlangt nach Richtungsweisung“. Da stellt sich die Frage, ob es jemanden braucht, der dem Volk sagt, was Recht ist? „Volk weiss nicht, Volk ahnt“, sinniert Andreas Blocher weiter in seinem Buch „Der hölzerne Himmel“. Daselbst lässt er Franz Blankart sagen: „Herr Blocher kann zu Frau und zum Mann von der Strasse reden, aussprechend, was diese ahnen, ohne es formulieren zu müssen“. Dem kann man beipflichten; ja, neidlos ist festzustellen, dass er diese Aufgabe mit Bravour (und viel Geld) erfüllt.
Ob sich allerdings der permanente Kampf (gegen die EU, gegen die Schweizerische Regierung, gegen Migration oder Andersdenkende) als mehrheitsfähige helvetische Devise in Zukunft durchsetzen wird? Wenn sich die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer als Abstimmungsverlierer irritiert fühlt, ist das wohl Anzeichen dafür, dass – anstelle von Lösungen – die Abstimmungssieger den Kampf zwar gewonnen haben, der nationale Zusammenhang jedoch gleichzeitig geschwächt wurde.
Die Wissenschaft liefert Erkenntnisse, die es noch im letzten Jahrhundert nicht gab. Kooperation als Erfolgsmodell ist ein Hoffnungsschimmer. Kooperatives Verhalten muss allerdings „gelernt“ werden. Wie oben beschrieben, am besten von klein auf im Familienverbund.