Immer offensichtlicher zeigt es sich, dass das Tempo des Wandels viele Menschen überfordert, augenfällig sichtbar bei Führungskräften in Politik und Wirtschaft. Während die zerstörerische Kraft der Egomanen der Welt den Takt diktiert, verfallen viele besonnene Kräfte in Schockstarre oder Sprachlosigkeit.
Altes gegen neues Denken
In der Schweiz mit ihrer direktdemokratischen Struktur (Föderalismus) wirken Verantwortliche immer öfter unentschlossen. Das äussert sich darin, dass parteipolitische Selbstinteressen und fehlende Kompromissbereitschaft sich lähmend auswirken. Von der einst beschworenen helvetischen Kooperationsbereitschaft ist wenig geblieben. Reformprojekte werden zwar aufgegleist, doch auch nach Jahren endloser Ratsdiskussionen hinterlassen die Verantwortlichen – statt kluge Modelle als Verhandlungsziele heranzuziehen – Verwirrung und Unverständnis im Volk. Einen wesentlichen Anteil der Verantwortung am Debakel tragen die offiziell geduldeten lobbyierenden Kräfte aus Wirtschaft und Institutionen.
Letztlich erleben wir den Kampf der rückwärtsblickenden Verharrenden gegen die fortschrittlichen Reformer; auf der Bühne stehen die konservativen Altdenkenden gegenüber den liberalen Neudenkenden.
Aufwachen aus dem Schlaf der Seligen
Für Kaspar Villiger (Bundesrat von 1989–2003) ist es höchste Zeit, dass unser Land aus dem Schlaf der Seligen aufwacht (Tages-Anzeiger). Er ortet die grössten globalen Veränderungen seit 80 Jahren als Grund, warum dringend neue Ideen zur Bewältigung der grassierenden Unsicherheit nötig sind. Es gilt die «grösste zivilisatorische Errungenschaft der Menschheit, den demokratisch marktwirtschaftlichen Rechtsstaat», zu stärken, zu erneuern, neuen Erkenntnissen anzupassen. Nun kann man über diese Formulierung durchaus geteilter Meinung sein – dass wir während dieser Jahre in der Schweiz in Frieden und Freiheit leben durften, ist jedoch tatsächlich eine menschliche Erfolgsgeschichte, für die wir dankbar sein müssen.
Um sich in Zukunft weiterhin erfolgreich entwickeln zu können, braucht es Reformen, die wir aus eigener Kraft rasch verwirklichen müssen. Kleinkarierte Gewerkschafter, die auf der linken Politskala in Grabenkämpfen verharren, sind ebenso von diesen neuen Zielen zu überzeugen wie ewiggestrige Ideologen auf der rechten Politskala. Sie alle sollten als Anschauungsunterricht das Buch «Stunde Null»* lesen. Darin ist nachzulesen, wie sich die Schweiz 1848 in ungleich kriegerischer Zeit aus eigener Kraft reformierte.
Mentale Aufrüstung der Schweiz
Die Schweiz, Insel der Glückseligen (NZZ), ist zurzeit nicht verteidigungsfähig. Ohne den in der Vergangenheit zuständigen militärischen und politischen Führungskräften einen Vorwurf zu machen – dies allein ist noch nicht reformwirksam –, gilt es doch zu beachten, dass europaweit während Jahrzehnten die Devise Abrüstung oder «nie wieder Krieg» die Diskussionen beherrschte.
Doch die Dringlichkeit, mit der die Beschaffung der nötigen Mittel für diese Modernisierung jetzt gefordert wird, dominiert die politische Agenda. Dabei scheint etwas Grundsätzliches eminent wichtig zu sein: Es braucht nicht nur eine waffenbezogene, sondern noch viel wichtiger eine mentale Aufrüstung der schweizerischen Bevölkerung.
Keine Geiss schleckt weg, dass wir – Mannen und Frauen mit der Rütliwiese unter den Füssen – in den vergangenen schönen und bequemen Jahrenzahnten zu bequem geworden sind. Zwar ist unser Land weltweit auf dem ersten Platz, was die SUV-Neuzulassungen pro Kopf der Bevölkerung betrifft, doch äussere Grösse sagt nichts über entsprechende eindrückliche Leistungs- und Denkfähigkeit aus. Wir müssen zudem wieder lernen, zu liefern, statt vom Staat zu fordern.
Letztlich sind in der föderalistischen Schweiz die Bürgerinnen und Bürger für den Staat mitverantwortlich – für den Erhalt der einmaligen politischen Strukturen dank zivilem Engagement und standortspezifisch vorteilhaften wirtschaftlichen Bedingungen, für zeitgemässe Reformschritte, für – neues, statt altes Denken.
Ist auch unser Föderalismus in die Jahre gekommen?
Gemeinden, Städte, Kantone – alle sind immer unzufrieden mit der aktuellen Machtbalance zwischen ihnen und dem Bund. Diese Infragestellung der anhaltenden Machtverschiebung nach oben (oft jedoch selbst verschuldet) ist gefährlich für unser Markenzeichen, den Föderalismus. Wie eine von Politologen erstellte Studie über die Kompetenzen von Bund und Kantonen in 22 Politikfeldern für den Zeitraum von 1848 bis 2020 beweist: «In allen Bereichen drängt der Bund stetig vor» (Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus im Tages-Anzeiger). «Die Machtbalance zwischen Bund und Kantonen gerät aus dem Gleichgewicht», stellen die Verfasser trocken fest.
Bahnt sich da ein weiteres Reformfeld an? Ein ungleich tiefenwirksameres?
Ruhiges Blut bewahren
Der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann von der Universität Zürich beruhigt. Trotz Trumps Zollkapriolen droht keine globale wirtschaftliche Apokalypse. «Der Präsident hat ein völlig falsches Bild, was die Handelsbilanz angeht; Firmen und Staaten können sich immer wieder anpassen» (Tages-Anzeiger).
Jetzt stellt sich die Frage: Können sich auch Menschen anpassen? Schweizerinnen und Schweizer, wenn es darum geht, rasch wirksam Neues aufzugleisen und zu realisieren? Mit neuem Denken den epochalen Wandel auch zuhause mitzugestalten? Mutige Reformschritte Richtung Zukunft zu wagen, statt sie noch länger zu zerreden?
* Rolf Holenstein: «Stunde Null»
 
        