In letzter Zeit häufen sich Meldungen aus der Wissenschaft, die unser liebgewordenes „rationales“ Menschenbild und Verhalten, auf das wir so stolz sind, in Frage stellen. Interessanterweise werden damit, neben generellen Verhaltenskonzepten, auch ökonomische und politische Thesen in einem neuen Licht gezeigt. Ein neues Menschenbild am Horizont? Auf diese Frage wird am Schluss der Kolumne eingegangen.
Seit Descartes besteht eine der Grundannahmen des westlichen Denkens in der strikten Trennung von Verstand und Gefühl (Ratio und Emotion). Aus der Neurologie vermelden Forscher, dass diese Ansicht erweitert, wenn nicht revidiert werden muss. Rationalität und Emotionen sind eng miteinander verflochten. Ohne Gefühle ist kein vernünftiges Handeln möglich, Geist und Körper bilden eine Einheit.1
Seit 1945 gingen wirtschaftswissenschaftliche Theorien vorwiegend von einem rationalen Menschen aus, der seine Entscheidungen auf der Grundlage von Informationen so trifft, dass Kosten minimiert und der Nutzen für ihn maximiert wird. Wir kennen ihn alle, den Homo oeconomicus. Der Psychologe (!) Daniel Kahneman, der zusammen mit zwei Kollegen 2002 den Wirtschaftsnobelpreis2 für Ökonomie erhielt, hat nachgewiesen, dass diese Ansicht bei Entscheidungsfindung in Situationen der Unsicherheit nicht zutrifft. Damit wurde erstmals das rationale Modell für Entscheidungsfindung und Beurteilung kritisiert. Die Drei wiesen nach, dass Tendenzen oder Neigungen beim Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen, meist richtig, gelegentlich aber falsch sind. Sie bleiben meist unbewusst.
Dieser Homo oeconomicus aber, so der Ökonom Tomas Sedlacek, „ist ein mechanisches Konstrukt, das gemäss unfehlbaren mathematischen Prinzipien und durch reine Mechanik funktioniert“3. Sedlacek führt diese weit verbreitete, aber letztlich falsche Ansicht darauf zurück, dass die Reduzierung des Intellekts auf die Mathematik auch die der menschlichen Anthropologie beeinflusst hätte. „In so einer Welt gibt es keinen Platz für die Gefühle, den Zufall und ungefüllten Raum.“ Damit geht ein Profi4 nicht zuletzt auch mit der Mainstream-Lehre der Wirtschaft hart ins Gericht. Er plädiert für eine menschlichere Metaökonomie, die auch nach der Bedeutung und dem Zweck (nicht nur den Maximierungsfunktionen) fragt und damit neue Forschungsfelder betritt. Mit anderen Worten: eine ganzheitliche Ökonomielehre.
Damit sind wir bei Gerhard Roth, Verhaltensphysiologe angelangt, der seit Jahren immer wiederholt: „Unsere bewussten Entscheidungen und Handlungen werden durch emotionale Vorgänge vorbereitet. Das emotionale Entscheidungssystem hat bei der Handlungssteuerung das erste und letzte Wort.“5 Welche Argumente uns beim rationalen Abwägen überhaupt zur Verfügung stehen, und uns in den Sinn kommen, hängt nicht von unserem bewussten Denken ab, sondern wird von unserem unbewusst arbeitenden Erfahrungsgedächtnis bestimmt. Dieses ist bekanntlich individuell völlig unterschiedlich.
In seinem neuesten Buch6 verweist Kahneman zudem auf unser automatisches Denkverhalten, das er (bildlich gesprochen) in fast (schnell) und slow (langsam) gliedert. System 1 „schnell“ ist spontan, automatisch, intuitiv, emotional, also gefühlsbetont. Diesem ist aber bekanntlich nicht immer zu trauen, oft entscheiden wir zu schnell, wenn wir uns der Illusion des Verstehens hingeben. System 2 übernimmt erst, wenn Zweifel an System 1 aufkommen, es funktioniert langsam, vernünftig, rational. Also auch hier wieder: Wenn wir überzeugt sind, rational zu handeln, sind oft grosse Zweifel angebracht.
Auch aus der Physik, wo die kreativen Denker traditionell weit verbreitet sind, kommt eine provokative Meldung. Laughlin7 spricht in seinen Forschungen vom Ende des Mythos von der absoluten Macht der Mathematik. Er stellt die Komplexität, also die Zufallsbestimmtheit in den Vordergrund, er ist überzeugt, dass es gilt, zukünftig die Welt der Emergenz (Selbstorganisation der Natur) zu erforschen und zu verstehen. „Selbst dieser Raum wimmelt von Dingen, die wir nicht verstehen. Nur Menschen, deren gesunder Menschenverstand durch ein Übermass an Bildung beeinträchtigt worden ist, können das nicht erkennen.“8
Noch nicht überall ist diese Botschaft angekommen. So lobpreist Markus Spillmann, Chefredaktor der NZZ, Angela Merkel, die „in kühler Ratio für ein wettbewerbsfähiges und politisch stabiles Europa“, ja, für „ein rationaleres Europa deutscher Prägung“ einsteht. „Sie betreibt mit der Nüchternheit der in der DDR erzogenen Naturwissenschaftlerin pickelharte Interessenpolitik und zwingt ihre europäischen Mitstreiter zum Einlenken, Europa in ihrem Sinn ‚rationaler’ zu machen.“9 Fragen wir an dieser Stelle mit Gerhard Roth, welcher Art ihr unbewusst arbeitendes Erinnerungsgedächtnis sei, welche Argumente ihr beim rationalen Entscheiden überhaupt zur Verfügung stehen – interessante Perspektive! Ob die Zukunft der EU mit diesem Fokus gerettet werden kann, ist mehr als offen. Griechenland, Italien, Spanien – lieben wir diese Länder nicht gerade wegen des weit verbreiteten emotionalen Überschwangs ihrer Bevölkerung? Ob da die pickelharte Belehrung aus dem Norden überhaupt verstanden werden kann?
Szenenwechsel: Pisa-Studien10 messen und vergleichen den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern. Diese quantitative empirische Forschung liefert Zahlen und Fakten, die für Aufregung sorgen. Dass jetzt immer mehr Zweifel aufkommen am Sinn solcher (rationaler) Messmethoden und deren wissenschaftlicher Relevanz ist beruhigend. Der Begriff Steuerungswissen ist eine Illusion. Wie wird man mit eindimensionaler Skalierung dem Wissen eines Menschen gerecht? Das Thema emotionale Intelligenz jedenfalls wird dabei ignoriert. Thomas Jahnke11 schreibt über die Illusion der Statistiker: „Die Frage, ob man da tatsächlich etwas misst, was man dann untersuchen kann, stellt sich gar nicht, weil der Gegenstand durch den Messprozess selbst hervorgebracht und konstituiert wird.“12 Vielleicht ist der kaschierte Grund für diese computergestützten „Resultate“ in der privaten Testindustrie zu suchen, die mittlerweile in 34 Ländern untersucht und die „Ergebnisse“ an 67 Staaten verkauft?
Damasio schliesslich, um zum Anfang der Kolumne zurückzukommen, spricht vom künftigen Entwurf eines Menschenbilds, das genauer ist als die gegenwärtige Auffassung und liefert dazu Frage und Antwort: „Warum wäre ein solcher Entwurf von praktischem Nutzen? Weil Erfolg und Versagen der Menschheit in hohem Masse davon abhängen, inwieweit sich die Öffentlichkeit und die Institutionen, die die Geschicke des öffentlichen Lebens lenken, dieses revidierte Menschenbild theoretisch und praktisch zueigen machen.“13
1 Antonio Damasio (*1944), Professor für Neurologie: „Descartes’ Irrtum“ (2006), List.
2 Kahneman erhielt 2002, zusammen mit L. Smith und Amos Tversky, für die „Prospect theory“ den Wirtschaftsnobelpreis.
3 Tomas Sedlacek: „Die Ökonomie von GUT und BÖSE“ (2012), Karl Hanser.
4 Tomas Sedlacek (*1977) ist einer der führenden tschechischen Ökonomen, er lehrt an der Prager Karl-Universität, ist Chefökonom der grössten tschechischen Bank und Mitglied des Nationalen Wirtschaftsrats in Prag.
5 Gerhard Roth (*1942), Professor für Verhaltensphysiologie: „Das Gehirn und seine Wirklichkeit“ (1996), suhrkamp taschenbuch wissenschaft.
6 Daniel Kahneman (*1934), Psychologe: “Thinking, fast and slow” (2011), Farrar, Straus and Giroux.
7 Robert Laughlin (*1950), Professor für Physik und Nobelpreisträger.
8 Robert B. Laughlin: „Abschied von der Weltformel – Die Neuerfindung der Physik“ (2009), Piper.
9 NZZ Nr. 289, 10./11. Dezember 2011: „Let Europe arise!“, Markus Spillmann.
10 Pisa-Studien: Die OECD macht seit 2000 internationale Schulleistungsuntersuchungen.
11 Thomas Jahnke, Professor für Didaktik der Mathematik, Universität Potsdam.
12 NZZ am Sonntag, 29.1.2012: „Die Illusion der Statistiker“, von Thomas Jahnke.
13 Antonio R. Damasio: „Der Spinoza-Effekt“ (2005), List.