Wir Schweizerinnen und Schweizer sind stolz auf unsere direkte Demokratie. Viele möchten das System gar „exportieren“. Doch – Hand aufs Herz – sind wir wirklich so gut?
Modetrend Volksinitiative
1891 genügten 50‘000 Unterschriften für das Zustandekommen einer eidgenössischen Volksinitiative. Heute sind es 100‘000. Viel wichtiger als diese nackten Zahlen ist der Hintergrund. Die 50‘000 entsprachen damals acht Prozent der Stimmberechtigten, die 100‘000 heute noch ganzen zwei Prozent. Konklusion: Es ist zurzeit viel zu einfach, die nötigen Unterschriften für eine Initiative zu sammeln. Eine eigentliche Initiativen-Flut ist die Folge, mit entsprechenden Kosten für den Staat und einem latenten Missbrauchspotenzial. Von 1892 bis 2012 stieg die Anzahl jährlich eingereichter Initiativen kontinuierlich von sechs (1934) über acht (1974) auf 12 (1999). Um ein Referendum einzureichen (für oder gegen einen Parlamentsentscheid) braucht es 50‘000 Unterschriften.
Die angetönten Kosten für den Staat (Steuerzahlende) pro Abstimmung betragen gemäss Bundeskanzlei rund 7.5 Millionen Franken. Nicht zu vergessen dabei sind die Tausenden von „Mehr-oder-weniger-Freiwilligen“, die am Sonntag auf der Gemeinderatskanzlei die Stimmen auszählen. Sie erhalten ein Trinkgeld und betrachten diese Staatspflicht oft als „Einstieg“ in die Politik – eine schöne Tradition.
Gänzlich anders sieht die Sache aus, betrachtet man die Kosten für die Initianten einer Initiative. In den Medien konnte man kürzlich lesen, dass sich die SVP den Aufwand für ihre Selbstbestimmungsinitiative Fr. 627‘000.-- kosten liess. Solche Beträge liegen für viele politische Mitspieler oder Parteizentralen schlicht ausserhalb ihrer Möglichkeiten. Da stellen sich dann besorgte Mitbürgerinnen und Mitbürger die berechtigte Frage, ob da nicht Politik „gekauft“ werde.
Die widerlegte Popularitätstheorie
Die Popularitätstheorie der Demokratie geht ungefähr so: Abstimmungsberechtigte kennen ihre Interessen und vertrauen ihren politischen Überzeugungen. Bei Wahlen und Abstimmungen bejahen sie jene Anliegen oder Kandidaten, von denen sie überzeugt sind, sie würden ihre persönlichen Wünsche am ehesten realisieren. Als Folge dieses Denkprozesses formulieren die politischen Parteien ihre Präferenzen genau entlang den Ratschlägen ihrer Polit- und Marketingberater so, dass sie der breiten Masse entsprechen (also dem „Volk“).
Viele denken, dass solchermassen zustande gekommene Entscheide dem idealen Kompromiss zwischen Politik und Bevölkerung gleichkämen. Diese Theorie ist allerdings falsch, wie Jason Brennan, Professor an der Georgtown University of Arizona feststellt (Schweizer Monat). Längst hat die empirische Politikwissenschaft die Popularitätstheorie „durchschaut“. Diese behauptet ja, Demokratien würden ausführen, was die Bürgerschaft wolle. Das „Volk“ wäre Herrscher, die Politiker hätten lediglich anzuführen. Doch: In der Politik geht es oft nicht um Inhalte, sondern um Macht.
Grosse Unwissenheit, worüber eigentlich abgestimmt wird
Seit Jahrzehnten erforschen Politikwissenschaftler, was die Abstimmenden wissen, was sie über Politik denken und was ihr Wahlverhalten bestimmt. „Die Ergebnisse sind ziemlich deprimierend“, meint der Professor. „In den meisten modernen Demokratien ist der typische Bürger, ja sogar der typische Wähler radikal unwissend.“
Wenn Sie als Leserin oder Leser jetzt finden, dieses Urteil hätte nur für die USA Gültigkeit – ich wäre mir da nicht so sicher. Auch bei den Brexit-Abstimmungen wurden vergleichbare Muster konstatiert. Ob wir in der Schweiz alle viel besser seien, darüber geben Interviews nach Abstimmungen Auskunft. Meistgehörte Antwort: „Ich stimme so, wie meine Partei“. Oder: „Ich kenne keine Details, aber die da oben werden schon wissen, was sie tun.“
Schon vor mehr als 2000 Jahren war Platon davon überzeugt, dass die demokratischen Massen zu ignorant wären, um sich selbst regieren zu können. Und schliesslich, noch nicht so lange her, sei’s mir erlaubt, zu wiederholen, was mein Grossvater gelegentlich an Abstimmungs-Sonntagabenden zu murmeln pflegte: „S’Volk isch es Chalb“.
Angst vor der Zukunft?
Rudolf Strahm hat sich 2018 die Mühe genommen, die Analysen des Wahlverhaltens der Schweizerinnen und Schweizer vom EWR-Nein (1992) bis zur Masseneinwanderungsinitiative (2014) nachzuzeichnen. Immer wieder zeigte sich, dass zwar Mythenpflege eine gewisse Rolle spielte. Hauptsächlich aber standen ökonomische Motive im Vordergrund. Ausschlaggebend waren „die Angst vor der Zuwanderung, vor Lohndruck und der damit verbundenen Arbeitsplatzgefährdung“ (DAS MAGAZIN). Mit dem Paket der flankierenden Lohnschutzmassnahmen hat die Regierung auf diese Situation reagiert.
Bei den Diskussionen um das Rahmenabkommen spielen auch heute wieder die gleichen Gründe eine wichtige Rolle. Flankierende Massnahmen zur Personenfreizügigkeit scheinen das A und O bei den Verhandlungen CH/EU, jedoch auch innerhalb der EU-Mitgliedländer. Dogmatische Verweigerungsgründe seitens der EU-Spitze sind deshalb kontraproduktiv und fehl am Platz.
Dass sich die Angst vor der Zukunft als Treiber des Abstimmungsverhaltens entpuppt, ist eine unbequeme Feststellung. Kann man sie zusammenfassend als Verlust-Angst bezeichnen? Verlust von Privilegien, Sicherheit und alten Gewohnheiten?
Direkte Schweizer Demokratie
Die kleine Schweiz kennt das föderalistische System mit seinen politischen Entscheiden auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene. Die einleuchtende Gründeridee war, damit die Verantwortung möglichst bürgernah auf deren Bedürfnisse zu übertragen.
Rund 64% der Bevölkerung dieses Landes sind stimm- und wahlberechtigt. Von diesem Recht machen rund 46% Gebrauch. In Zahlen: 2,5 Mio. (~29%) der Bevölkerung von 8,4 Mio. entscheiden an der Urne. Fügt man bei diesem Gedankenspiel die Thesen dieses Beitrags zusammen, kann man durchaus zum Schluss kommen, dass in der Schweiz rund 29% der Bevölkerung – von diesen ein gewichtiger Teil mangelhaft informiert – die politischen Entscheide an der Urne fällen.
So betrachtet, stellen sich erstens die Frage, wie weit in Zeiten des überbordenden Einsatzes des Initiativ- und Referendumsrechts durch potenzielle finanzielle Einzelpersonen politische Entscheide „gekauft“ werden könnten? Zweitens: Verliert das hochgelobte föderalistische System nicht an Glaubwürdigkeit, wenn die geschilderten Tendenzen zutreffen und fragwürdige Beeinflussungen entsprechende Resultate zur Folge hätten?