Vielleicht geht es Ihnen ja gleich wie mir: Die E-Trottinetts, die mitten auf dem Trottoir, vor Haustüren oder Ladenportalen den Durchgang blockieren, die nachts gefährliche Sturzquellen darstellen oder stundenlang den Zugang zu Kiosken oder Billettautomaten blockieren, empfinde ich als Ärgernis. Doch nicht die E-Trottinetts sind dafür verantwortlich – es sind ihre überforderten Benutzer*innen. Damit beginne ich diesen Beitrag mit dem menschlichen Verhalten und ich werde auch dort enden …
Die Mikromobilitäts-Revolution
Dieser relativ neue Trend, seit einigen Jahren weltweit vor allem in Städten sichtbar, repräsentiert ein riesiges Potenzial. Im Prinzip umfasst der Begriff Mikromobilität alle Fahrzeuge – meistens elektrisch angetrieben – unter 500 kg. Die Idee dahinter: Über 80 Prozent unserer Städtetrips sind kurz, weniger als drei Kilometer lang. Da ist – man höre und staune – in den USA die Idee gereift, dass es ein ökologischer und ökonomischer Unsinn ist, wenn eine Person dafür ihren über zwei Tonnen schweren SUV (Sport Utility Vehicle) in Bewegung setzt. Automobilität wird sich dimensional verändern – weltweit.
Es ist nicht auszuschliessen, dass in städtischen Zentren ein generelles Umdenken bezüglich der zukünftigen Automobilität stattfinden wird, die sich auf die Städteplanung, aber auch auf die menschlichen Gewohnheiten auswirken dürfte. (Zwischenfrage des Autors: Ein SUV wird auch als Geländelimousine oder Städtegeländewagen bezeichnet und soll also speziell für städtisches, enges «Gelände» geeignet sein. Dürfte diesen SUV nun gar ihre spezielle Eignung zum Herumkurven in städtischen Zentren strittig gemacht werden?).
Was kommt da auf uns zu?
Gemäss Azeem Azhar («Azeem Azhar's Exponential View ») wuchsen die E-Velo-Verkäufe in der EU von weniger als 100'000 im Jahr 2006 auf 3,4 Mio. im Jahr 2019. Gemäss einer Studie der Heinrich-Böll-Stiftung könnten bis 2030 die entsprechenden Zahlen auf 13,5 Mio. explodieren. In einem packenden Gespräch zwischen Azhar und Horace Dediu, dem weltweit führenden Analysten auf dem Gebiet der Mikromobilität, wird das Publikum in eine spannende Mobilitäts-Zukunft entführt. Dediu definiert Mikromobilität als sehr effiziente Mobilität, was den Verbrauch benötigter Energie betrifft. Dazu hat er eine neue Definition eingeführt: «MOT (Modicum of Transport)», was sich ungefähr so übersetzen lässt: «Minimum an benötigter Transportmenge, um eine Person einen Kilometer weit zu bewegen».
Warum sind die Wachstumschancen so enorm? Weltweit fahren Milliarden von Menschen täglich in den Städten herum – die Mehrheit von ihnen im eigenen Auto, das rund zwei Tonnen wiegt, bequem Platz für fünf Personen bietet, hunderte Kilogramm an Gepäck laden und eine Reichweite von 600 Kilometern bewältigen kann. Doch wir nutzen Autos täglich für städtische Kurzstrecken. Tatsächlich absurd. Dediu prophezeit, dass MOT mithelfen wird, gegenwärtige «versteinerte» Transportgewohnheiten zu zertrümmern.
Gewohnheiten aus dem 19. Jahrhundert prägen uns
Noch immer sind wir im Transport-Konstrukt aus den Anfängen des Autobaus im 19. Jahrhundert gefangen. Die Idee, dass ein schweres Auto mit einer Höchstgeschwindigkeit von 200 km/h und grosser Personen- und Gepäckkapazität gebraucht wird, um einen Menschen fortzubewegen, ist ein «historischer Unfall» – diese Phase wird irgendwann verschwinden, davon ist Dediu überzeugt. Dieser Fehler wird korrigiert werden – und wir werden zu einem logischeren Personentransportsystem gelangen. Die technischen Voraussetzungen sind vorhanden.
Tatsächlich, so argumentiert Deliu weiter, braucht es ein Minimum an Energie und Geld und was auch immer, um Personen zu transportieren. Sogar sehr wenig – warum wenden wir das nicht an? Viele antworten darauf, dass wir nun mal das Strassennetz und die Autos hätten – also nutzen wir sie. Damit sind wir bei einer Kardinalsfrage angelangt, auch anderswo zu beobachten: Wann lohnt es sich, aufgrund getätigter Ausgaben in eine Sache (sagen wir in ein Einfamilienhaus) weiter zu investieren oder wann drängt sich ein Neuanfang (EFH abreissen und Neubau) auf?
Überraschungen erwarten uns
Geht man diesen Fragen weiter auf den Grund, landet man bei überraschenden Konsequenzen. Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, hat kürzlich Teile des Stadtzentrums zur velofreundlichen Fussgängerzone erklärt. Die Stadtregierung Zürichs ist längst ähnlich unterwegs: Parkplätze werden aufgehoben, Tempo 30 überall, Strassenzüge werden zu Familien-Aufenthaltszonen umfunktioniert. Nachdem wir gehört haben (podcast: micromobility with Horace Dediu auf Azhars Homepage), welche Folgen die Mikromobilität zeitigen wird, sollten wir wohl das Denken in Gewohnheiten des 19. Jahrhunderts aufgeben.
Die kommende Übergangszeit
Was heisst dies für uns? Azeem Azhar und Horace Dediu tendieren dazu, dass «das richtige Werkzeug für jede Situation» angebracht ist. Familien würden E-Trottinetts, E-Velos und E-Autos besitzen, wobei Autos, aufgrund ihrer verhältnismässig hohen Kosten, nicht mehr gekauft, sondern kurzfristig gemietet würden.
In diesem Zusammenhang argumentiert Dediu mit der Tatsache, dass die meisten europäischen Städte «alte» Städte sind – deren Zentren Infrastrukturen aus Zeiten ohne Autos aufweisen. Am Beispiel Helsinkis, Dedius Heimatstadt, zeigt sich, dass Mikromobilität die Einstellung der Menschen und damit auch der Behörden langsam, aber sicher verändert: Ganze Strassenzüge werden durch Boulevards ersetzt und damit den Menschen zurückgegeben. In Erinnerung gerufen wird, dass Autos heute 96 Prozent ihres «Lebens» herumstünden («Stehmobil») und damit auch wirtschaftlich schlechte Investitionen darstellten.
Die Diskussion dreht sich weiter – in die Zukunft. Heute besitzen wir ein Auto, nicht nur wegen seines Nutzens, sondern aufgrund eines langen, anspruchsvollen («sophisticated») menschlichen Prozesses, in dem sich der Besitz des Autos immer mehr zum Statussymbol entwickelte. Mit unserem Auto signalisieren wir unseren «Reichtum». Mit steigendem Wohlstand der Nationen nehmen die teuren, grossen, schweren Vehikel zu. Doch es zeichnet sich ein fundamentaler Sinneswandel ab: Speziell die jüngeren Generationen sehen das anders, sie brauchen kein Auto, um der Welt zu zeigen, wer sie sind … Dediu zeichnet das Bild des erfolgreichen Familienvaters, der mit seinem teuren Wagen zu Hause sein Garagentor öffnet, wobei ihm zwei E-Velos seiner Kinder den Platz versperren …
Konklusion
Die beiden Gesprächspartner, beides etablierte Grössen auf dem Gebiet der Zukunftsevolution, raten den Autoherstellern dringend, diesen Trend im Auge zu behalten. Sie vergleichen die technische Entwicklung der Automobilität mit jener der Computer-Revolution. Seinerzeit sahen wir den Trend vom tonnenschweren Grosscomputer zum Tablet nicht einmal in unseren kühnsten Träumen voraus – heute besitzen wir alle ein Smartphone …