Wer heute die Frage stellt, ob Demokratien im Begriff sind, den Kampf gegen den lauten, immer noch verharmlosten Populismus zu verlieren, begibt sich auf glattes Eis. Nicht wenige jenes Drittels der Schweizer Bevölkerung, die den Versprechungen der politischen Vereinfacher zustimmt, stellt gar in Abrede, populistische Personen zu wählen. Sie begründen ihre Haltung etwa so: endlich jemand, der Klartext spricht, nicht vor dem Ausland kuscht, der den Schweizer Sonderfall erkannt hat und verteidigt. In vielen Ländern Europas tönt es ähnlich, mit Ausnahme des Bezugs zum Schweizer Sonderfall, der wird fallweise ersetzt durch „unsere Heimat, unsere Nation, unser Land“. Patriotismus eben.
Begriffsklärung
Zur rechtspopulistischen Parteienfamilie gehören Parteien, welche Nationalismus, Autoritarismus und Populismus vereinen. In dieser Definition geht Nationalismus einher mit Xenophobie, also mit Abgrenzung gegenüber „Fremdem“. Autoritarismus wird verstanden als die Glorifizierung autoritärer Persönlichkeiten und als der Glaube an eine streng geordnete Gesellschaft. Populismus spielt hier primär auf die Abgrenzung des „Volks“ von einer angeblich korrupten Elite an, wobei der „Volkswille“ als höchstes Gut hochgehalten wird (Cas Mudde, 2007). In allen Ländern Europas ist das gleiche Markenzeichen erkennbar: Kritik an der herrschenden „classe politique“. Hass schüren auf „die da oben“.
Jahre der Konfusion
Flüchtlingsströme drängen nach Europa. Hunderttausende verlassen ihre Heimatländer, die – nach Jahren der Ungemütlichkeit und der Wirrnisse – inzwischen unbewohnbar geworden sind. Würden wir in der friedlichen Schweiz nicht gleich reagieren, wenn hier seit Jahren Krieg herrschte? Wenn unsere Häuser zerbombt wären, die Lebensmittel ausgingen, das Trinkwasser ungeniessbar? In jenen Ländern herrscht, nach anfänglicher Konfusion, jetzt die schiere Verzweiflung.
In den europäischen Ländern, dem verklärten Ziel der Flüchtlinge, herrscht auch Konfusion, auf anderem Niveau. Auch in der Schweiz. Wir haben Angst – eine diffuse, Angst um unsere Schweiz. Wir haben keinen Platz für die Tausenden – das Boot ist doch voll. Wir verstehen die Welt nicht mehr. Globalisierung, Deregulierung, Fremdbestimmung – unser kleines Land droht, in den Strudel der Ereignisse hinuntergerissen zu werden.
Wären da nicht jene, die in Extrablättern lauthals verkünden: wir – nur wir – garantieren für eure persönliche Freiheit, Sicherheit, Wohlstand und dafür, dass die Schweiz Schweiz bleibt. Wir sind es, die als einzige die Zuwanderung bremsen können, mit dem herbeigeredeten Asylchaos problemlos aufräumen und nebenbei noch die Missbräuche im Sozialwesen verhindern werden. Sozusagen als Dreingabe versprechen wir euch, dass die Schweiz ein eigenständiges und freies Land bleiben wird. Dieses pauschale Vorgehen, das der Masse schmeichelt, in dem es an ihre Gefühle, Instinkte und Vorurteile appelliert, wird gemeinhin als Populismus bezeichnet, seit Jahrhunderten.
Die geschilderte Angst ist echt, nachvollziehbar, zu verstehen. Das Sorgenbarometer der CS beweist es alljährlich. (Interessant in diesem Zusammenhang: auch 2015 geniessen in dieser Erhebung Bundesgericht und Bundesrat das grösste Vertrauen in der Bevölkerung). Doch der Missbrauch dieser Angst ist unschweizerisch.
Unkomfortable Welt
Unsere Demokratien, auf die wir – wie schon Winston Churchill – zu recht so stolz sind, leiden unter den globalen Trends der Verwirrung, der enormen Komplexität der digitalen Welt, der Finanz- und Flüchtlingskrisen. Unsanft werden wir aus dem 70-jährigen Komforttraum geweckt. Guter Rat ist teuer, auch für Frau Merkel.
Wir wissen nicht mehr wie weiter. Wir, das sind Sie und ich, Politiker, Experten, Wirtschaftsführer, Strategen und Wählerinnen und Wähler. Unsere ganzen demokratischen Systeme geraten sozusagen in Verlegenheit. Doch „Nichtwissen“ ist verboten (wenn auch eine alte, menschliche Qualität). Die Überforderung greift um sich.
Helmut Willke, Professor für Global Governance an der Zeppelin Universität Friedrichshafen stellt fest: „Faktisch aber produziert die umfassende kognitive Überforderung der Wähler einen Zwang zur Simplifizierung und Trivialisierung, die einem brandgefährlichen Populismus Vorschub leisten. Unwissenheit war von jeher und ist noch die Quelle aller Barbarei.“
Der Front National in Frankreich
Marine Le Pen, die Chefin des Front National (FN) will im Präsidentenwahljahr 2017 an die Macht. Das Muster dieser rechtspopulistischen Partei ist geradezu beispielhaft: Sein Programm: Grenzen dichtmachen, illegale Immigranten ausschaffen, nationale Einheit stärken. Daneben kritisiert er permanent und lauthals die Regierung. Aus Wut und Enttäuschung über die gegenwärtige Situation, aber auch aus Angst vor Fremdem, stimmt mittlerweile ein Drittel der Bevölkerung (vor allem Bauern, Chefs von kleinen Unternehmen und Handwerksbetrieben, Unpolitische, aber auch Junge) für den FN. Am meisten verbreitet ist er in sehr ländlichen, wenig urbanisierten Regionen.
Bedrängte Nationalstaaten
Zunehmend verlieren die territorial begrenzten Nationalstaaten ihre vormals dominante Rolle. Zwar sind sie de facto souverän (in der EU in Rahmen der Brüsseler Verträge), doch – Hand aufs Herz – die globalen Institutionen, Nichtregierungsorganisationen (NGO), weltvernetzte Global Players überziehen die „freien“ Demokratien mit einem immer engeren Netz von Entscheidungsprämissen und selbsterteilten Entscheidungskompetenzen (US- Gerichte), denen die Nationalstaaten sich, kraft der Dominanz der Machtgrösse, zu unterziehen haben, wenn auch knurrend.
Wir erinnern uns nur ungern an das markige Statement von Alt-Bundesrat Merz, der noch vor wenigen Jahren zum Schweizerischen Bankgeheimnis verkündete: „Daran werden sich die USA die Zähne ausbeissen!“ Inzwischen hat dieses weltweit berühmte und berüchtigte Geheimnis selbst seine Zähne verloren.
Solche globalen Institutionen werden unter dem Namen Global Governance diskutiert. Deren Legitimität ist oft unklar. Doch, ob es uns passt oder nicht, diese Verschiebungen sind – nicht nur für die freie Schweiz – brisant, prekär, weltweit. „Zugleich sind sie allerdings unter den Bedingungen einer globalisierten Wissensgesellschaft wohl unvermeidlich und notwendig und sie deuten die Richtung an, in die sich die Demokratie in Zeiten der Konfusion entwickeln könnte“, sagt Wilke.
„Stop the world, I want to get out!“ Wohl für keine politische Partei eine Option.
Demokratie im Wandel
Schon immer haben sich Demokratien als System der politischen Entscheidungsfindung verändert. Konfusionen diverser Ursachen standen jeweils am Anfang der Transformation. Eine solche, typisch schweizerische, brachte die Schweizer, zuletzt sogar die Appenzeller dazu, den Frauen das Wahl- und Stimmrecht zu gewähren…
Zusätzlich für Konfusion sorgte die Dynamik der Wissensgesellschaft. BIG DATA, Internet der Dinge, Drohnen, die Zuständigkeiten und Kompetenzen verschwimmen. Klimawandel, Terrorismus und Finanzkrisen sind Beispiele dafür, dass nur mit weltweiten Kooperationen von Disziplinen, Berufen, Expertenwissen trag- und zukunftsfähige Lösungen überhaupt realisierbar werden.
Wilke meint dazu in seinem bemerkenswerten Buch „Demokratie in Zeiten der Konfusion“: „Für demokratische Entscheidungsfindung bedeutet dies eine gesteigerte Abhängigkeit der Entscheider von einer Fülle von Expertenwissen, über welches weder die meisten Wähler, noch die meisten Gewählten verfügen“.
Kooperation oder Kampf?
Zusammenfassend gilt: „diese territorial bornierte Rationalität kommt immer häufiger in Konflikt mit der Rationalität globaler Interdependenz. Auf der einen Seite steht die Bewahrung globaler Kollektivgüter wie das Weltklima, eine funktionierende Weltwirtschaft und der Frieden auf der Welt, also Kollektivgüter, die nur durch ein koordiniertes Zusammenspielt aller betroffenen Staaten gesteuert und gesichert werden können […]. Auf der anderen Seite stehen die sehr heterogenen lokalen Interessen der nationalen Demokratien, die der Rationalität politischer Mehrheiten und kurzer Wahlzyklen folgt“.
Auch für die Schweiz gilt die illusionslose Tatsache, dass die nationale, demokratische Politik auf Machtbeschaffung und –erhaltung ausgerichtet ist, was im Klartext heisst, Mehrheiten zu erzielen. Die SVP als nationalkonservative Partei agiert national und konservativ, sie ist der Meinung, dass derzeit die falschen Repräsentanten in Bern bestimmen. Sie versprach aber vor den Bundesratswahlen, falls ihr der zweite Bundesrat zugesprochen werde, Verantwortung zu übernehmen. Sie meinte damit wohl, die Verantwortung, für ihre Sicht der Dinge zu kämpfen. Das ist natürlich ihr gutes Recht.
Das Gegenmittel, das eine Destabilisierung der Demokratien verhindern könnte, ist längst bekannt: erfolgreiche Kooperationen aller politischen Players. Wenn wir uns schon alle eingestehen müssen, nicht recht zu wissen, wie weiter, welche Lösungen einen Ausweg aus der Konfusion bieten könnten, warum nicht nach echt schweizerischer Tradition zusammensitzen und ihn gemeinsam suchen? Wie schön wäre es doch, würde sich die vielbeschworene Konkordanz im Sinne ihrer Erfinder (Entscheidungen durch Herbeiführung eines Konsenses zu treffen) im neuen Jahr durchsetzen! Genauso, wie es die vier grössten Parteien der Schweiz vor den Wahlen unisono versprochen haben.
Literatur:
Helmut Willke: „Global Governance“
Helmut Willke: „Demokratie in Zeiten der Konfusion“