Thomas Mann begann vor genau 100 Jahren am Manuskript zu seinem Meisterwerk „Der Zauberberg“ zu schreiben. Ein Jubiläum der besonderen Art, also! 2013 treffen sich im Sanatorium für Weltwirtschaft (Begriff von Klaus Schwab auf Radio SRF) die Global Leaders zum Kuraufenthalt in Davos. Zwar bezeichnen sie sich selbst nicht eigentlich als erholungsbedürftig, doch die Welt, in der sie leben und führen, leidet an „Tuberkulose“. Ganze Staaten liegen mit geschwächtem Immunsystem auf der Intensivstation. Die Infektionskrankheit ging von den Finanzmärkten aus. Doch dort gelten allzu oft, auch sechs Jahre nach Ausbruch der Krankheit, immer noch zwei überholte Glaubensgrundsätze, die die epidemische Ausbreitung erst ermöglichten: Erstens, die Protagonisten der Branche irren in der Annahme ihres vollkommenen Wissens. Und zweitens, ihr Glaube, wonach die Finanzmärkte zum Gleichgewicht tendierten, ist immer noch nicht ausgerottet.
Deshalb versprechen sie sich, wie jedes Jahr am WEF in Davos, vom Kur(z)aufenthalt auf dem Zauberberg Heilung. Oder Stärkung ihres Selbstbewusstseins?
„Davos Man and his defeats“, titelte der Economist kürzlich seine Schumpeter-Kolumne. Der Kult um Global Leaders steht tatsächlich in auffallendem Kontrast zum ernüchternden Stand der globalisierten Welt. Viele der seit Jahren in Davos regelmässig teilnehmenden Wirtschaftsgrössen und Politiker wurden in letzter Zeit auf dem falschen Fuss erwischt. Global Leadership Gurus sollten - nein müssen - ehrlicher über das Verhältnis zwischen Wirtschaft und der übrigen Welt – der Gesellschaft – nachdenken.
Anzeichen für einen solchen Wandel sind sichtbar. Am Institute for New Economic Thinking (INET) in New York, wo Koryphäen wie Akerlof, Stigliz, Ferguson wirken, wird darüber tatsächlich nachgedacht. Die Zusammenarbeit mit dem WEF ist ein Hinweis darauf, dass hinter den Kulissen einiges im Gang ist.
George Sorros, einer der Hauptkapitalgeber des Instituts, auch er anwesend am WEF, ist überzeugt davon, dass die Wirtschaftstheorie immer noch stark mathematisch geprägt ist. Deren „rationalen Erwartungen“ haben sich längst als wissenschaftliche Irrläufer erwiesen. Diesen marktfundamentalistischen Konsens der Wirtschaftswissenschaften endlich zu erschüttern – darüber wird geforscht. Ein neues Paradigma kündigt sich an. Diese Ansicht wird von anderen Wissenschaftlern geteilt. Etwa vom Physiker Robert B. Laughlin, der mit seinem Befund, „der Übergang zum Zeitalter der Emergenz setzt dem Mythos von der absoluten Macht der Mathematik ein Ende“, viele seiner Kollegen in Aufregung versetzt. Oder von Verhaltensphysiologen und Neurologen, die längst nachgewiesen haben, dass „rationale“ Entscheide immer emotional vorkonditioniert sind. (Jetzt wird klar, warum Daniel Vasella auch in der Höhenluft vor illustrem Publikum allen versicherte, er sei seine Bezüge - „rational“ gesehen - wert gewesen).
The Davos Man ist übrigens ein Begriff, den der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington („The Clash of Civilizations“) seinerzeit prägte für die Mitglieder der globalen Elite, die sich alljährlich am WEF treffen. Davos Man mutierte allerdings in den letzten Jahren auch zum Synonym für skrupellose Banker, Wall Street Highshots und alle jene mit einem dicken Zahltag und grossem Einfluss in hoher Position.
Ein internationales Studenten-Reporter Team (www.studentreporter.org) berichtete täglich online aus Davos (sie gehören zu oikos, der führenden Studentenorganisation für nachhaltige Wirtschaft und Führungsausbildung, 1987 an der Universität St. Gallen gegründet). Als Vertreter der nächsten Generationen fragen sie hartnäckig nach. Sie unterscheiden sich damit schon mal von all jenen, die die richtigen Antworten kennen und dozieren. Der Fokus ihrer Suche gilt den grossen Themen Erderwärmung, Klimawechsel, Nachhaltigkeit und den ökologischen Risiken aktueller Wachstumstheorien. Der Ansatz ist vielversprechend und verdient Beachtung.
Klaus Schwab seinerseits, oft wie ein Wanderprediger wirkend, möchte den 2500 Teilnehmenden seines WEFs an den über 200 Sitzungen Bewusstseinsbildung ermöglichen, um in einer ganzheitlich verstandenen Welt Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu verschmelzen. Kurz, den Zustand der Welt zu verbessern. Diese Zielsetzung ist anspruchs- und wertvoll gleichzeitig. Er fragte sich selbst: Sind wir einen Schritt weiter gekommen? Da erinnere ich mich der Gesprächsrunde zweier Ehepaare, das eine kürzlich in akuter Krise steckend. Gefragt, ob die gemeinsame Therapie etwas genützt hätte, war die Antwort: „Wir standen unmittelbar am Abgrund. Jetzt sind wir einen Schritt weiter.“
Schwab plädierte vor dem WEF für neue Verhaltensregeln in der Wirtschaft und Politik. In diese Richtung setzten die Diskussionen „Frauen in Machtpositionen“ überfällige Zeichen. Gerade in unserem Land mit einem Frauenanteil von 5% in den Gremien der Geschäftsleitung sei die Frage gestattet, ob die in der Davos anwesenden Herren Zeit hatten, die Botschaft von Christine Lagarde zu wahrzunehmen: „Die Frauen haben gelernt, mehr zuzuhören, stärker auf still und effektiv im Hintergrund wirkende Personen zu achten und kooperativer zu werden“.
Kooperation – ein Wort der Stunde. „The need for global cooperation has never been greater“, beschwor Klaus Schwab sein Publikum. Kooperativer zu werden, mahnte Lagarde die Global Leaders an. Wäre die Wissenschaft in Davos stärker vertreten gewesen, hätte zum Beispiel der Mediziner Joachim Bauer mit seiner These gepunktet: „Der Mensch ist nicht primär auf Egoismus und Konkurrenz eingestellt. Die neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen, dass eines der wichtigsten Erfolgsgeheimnisse der Evolution – die Kooperation ist“.
Was brachte das diesjährige WEF? Wenn bei den Grossen dieser Welt die Idee Schwabs Früchte trug, folgendes: Denke in langen Zeiträumen, gewinne einen Freund, eine neue Idee, eine neue Geschäftsbeziehung (gilt auch für Politiker) und engagiere dich in eines der 70 Projekte! Dies sind qualitative Werte, die aus der Krisenstimmung heraus führen.
In einem Jahr werden sie sich in Davos wieder treffen. Ob das neue Paradigma inzwischen gefunden, der Glaube an überholte Wirtschaftswissenschaften verloren, das Dogma der rationalen Entscheidungen überwunden wurden und unterdessen tatsächlich ein neuer, kooperativer Geist Einzug in den Topetagen der Wirtschaft und Politik hielt – wir müssen es hoffen. Viele der gewerkschaftlich staatlich verkrusteten Volkswirtschaften Europas hätten Reformen, mehr Wettbewerb und neue Geschäftsmodelle dringend nötig. Und nicht wenige der Entscheidungstragenden in der Politik wären gefordert.
Wie sagte Abraham Lincoln vor 150 Jahren? „If you want to test a man’s character, give him power.” Die Macht haben sie.