Der Chef der Migros-Bank sieht keine Immobilienblase. Vermögensverwalter empfehlen Aktien. Starökonom Shiller ist überzeugt, dass der Euro überleben wird. Nouriel Roubini, der Ökonomie-Prophet prognostizierte im April 2009 ein Ende der Rezession auf Dezember 2009. Der Politologe Michael Hermann prophezeite im Dezember 2010: „Die SVP hat einen Reifungsprozess durchgemacht und wird in den Wahlen 2011 leicht zulegen.“ Und der Anlagechef der Bank Sarasin liess in den Medien zum Jahresbeginn 2011 verlauten: „Der Dollar wird dieses Jahr auf 1.10 Franken steigen.“1
Was ist von diesen Prognosen zu halten? Von nicht viel bis gar nichts. Jedenfalls tun wir gut daran, ihnen zu misstrauen. Wie entstehen sie? „Experten“ denken in schlüssigen Geschichten, verknüpfen rationale Fakten zu einem stimmigen Bild, nehmen die Vergangenheit als Modell für die Zukunft. Dieser Ansicht jedenfalls ist Nassim Nicholas Taleb2, der grosse Denker und Provokateur.
Diese schlüssigen Geschichten bilden sozusagen das Fundament für das darauf erstellte Faktengebäude. Doch Achtung: Anders ausgedrückt, ruht dieses „rationale“ – oft computergestützte, mathematische – Modell auf emotionaler Konditionierung. Vergleichbar mit dem auf Sand gebauten Haus. Die Vergangenheit herbeizuziehen, lineare (oder zumindest erfahrungsgestützte) Projektionskurven zu ziehen, ist brandgefährlich und kann geradewegs ins Desaster führen. Die Ergebnisse sind schlicht falsch, sagt Taleb und zieht den Auslöser der seit 2007 anhaltenden Weltwirtschaftskrise als Beispiel heran. Das Platzen der Subprime-Blase prognostizierte niemand.
Wer von der Vergangenheit auf die Zukunft schliesst, arbeitet fahrlässig. Zudem sind es die höchst unwahrscheinlichen Ereignisse, die bei solchen Prognosen ausgeklammert werden.
Beispiel 1: Die Martinigans, die über Monate gehegt, gepflegt und gefüttert wird und demzufolge optimistisch der Zukunft entgegensieht, täuscht sich leider. Der Tag vor Martini endet für sie „völlig überraschend“ mit dem Tod.
Beispiel 2: Die Sicherheitsberechnungen der Atomkraftlobby basieren auf Szenarien, die Erdbeben stärker als in den letzten 250 aufgetreten, schlicht ausklammern. Für diese Taktiker sind sie unwahrscheinlich, treten sie dennoch ein, waren sie „unvorhersehbar“. Japan 2011 sollten wir nicht vergessen.
Dass Taleb keine Zeitungen mehr liest hängt damit zusammen, dass sie für ihn keinen Prognosewert enthalten. „Medien sind der Gipfel der Irrelevanz“, meinte er in einem Interview, klammerte dabei aber ausdrücklich die Wetterprognosen aus. In seiner persönlichen Bibliothek stehen 10'000 Bücher und er ist überzeugt: „Die wirklichen Durchbrüche kommen nie aus den Universitäten“. Seine Überzeugung: „Etwas hat in der Vergangenheit funktioniert, bis – na ja, es funktioniert jedenfalls unerwarteterweise nicht mehr“, dieses naive, rückwärtsgerichtete Verhalten, führt zu falschen Schlüssen.
Gerne zitiert er die folgende Perle der Weisheit, die vom Kapitän eines weltberühmten Schiffs stammen soll, der sagte: „Ich habe jedoch noch nie einen nennenswerten Unfall erlebt. In all’ meinen Jahren auf See habe ich nur ein einziges Mal ein Schiff in Not gesehen. Ich habe nie einen Untergang miterlebt und war auch nie in einer gefährlichen Lage, die zu einer Katastrophe hätte führen können.“ 1912 sank das Schiff von Kapitän Smith (von dem diese Bemerkung stammte), die Titanic, und wurde das berühmteste Wrack der Geschichte.
Taleb, selbst Mathematiker, ist auch ein Kritiker der neoliberalen Wirtschaft. Er ortet den grossen Fehler darin, dass wir davon ausgingen „dass die Individuen in Zukunft rational sein und daher vorhersehbar handeln werden. An diesem Trick hängt die neoklassische Ökonomie.“
Taleb plädiert für einen skeptischen Empirismus anstelle des alten, platonischen Standpunkts. Letzterer geht davon aus, dass wir in der Lage wären, Wahrscheinlichkeiten berechnen zu können und unsere Ideen auf Überzeugungen (was wir zu wissen glauben) beurteilen. Im Gegensatz dazu ist Taleb nicht davon überzeugt, dass wir Wahrscheinlichkeiten überhaupt berechnen können, zudem begegnet er Ideen – eben – mit einer gesunden Portion Skeptizismus. Er verbringt seine Tage mit Lesen, Denken und Schreiben. Überhaupt hält er Belesenheit für wichtig. Für ihn ist sie ein Zeichen für echte intellektuelle Neugier, geistige Aufgeschlossenheit und das Bestreben, die Ideen von anderen zu erforschen. „Vor allem können belesene Menschen mit ihrem eigenen Wissen unzufrieden sein, und diese Unzufriedenheit ist ein wundervoller Schutz vor Platonität, den Vereinfachungen des Fünfminutenmanagers und die Philisterei des zu stark spezialisierten Gelehrten. Ohne Belesenheit kann Gelehrsamkeit sogar zu Katastrophen führen.“3
Mir bleibt jetzt nur, mit meinen Kolumnen unzufrieden zu sein.
1 Roubinis Ende der Rezession ist noch nicht in Sicht, Hermanns SVP hat bei den Wahlen 2011 überraschen viel verloren, der Dollar liegt aktuell bei 92 Rappen.
2 Nassim Nicholas Taleb (*1960), libanesischer Universalgelehrter, lebt vorwiegend in New York und wurde berühmt durch seine beiden Bücher „Narren des Zufalls“ und „Der Schwarze Schwan“.
3 Nassim Nicholas Taleb: „Der Schwarze Schwan“ (2007), Hanser.