Wir alle sind täglich mit Problemen konfrontiert. Sie sind die Stolpersteine auf dem persönlichen Weg. Probleme stellen sich auch Regierungen, hier finden sie mediale Aufmerksamkeit und entwickeln schon mal das Zeug zu Schlagzeilen oder Hypes. Probleme überall, doch was wissen wir über Probleme?
Das Problem beginnt schon lange vorher. Eigenartigerweise ist es mit der Definition des Begriffs nicht getan. Denn eines der Hauptprobleme besteht darin, dass die entscheidenden, ja fundamentalen Probleme allzu oft … unvorhersehbar, weil höchst unwahrscheinlich sind. Das allerdings realisieren wir in der Regel erst im Nachhinein.
Liegt jedoch die glücklichere Variante eines Problems vor – Problem erkannt! hiess es im Militär – ist alles viel einfacher. Was ist gemeint? Beginnen wir mit der Definition des Wortes, hergeleitet aus dem Griechischen: „das, was zur Lösung vorgelegt wurde“; und was offensichtlich mit Schwierigkeiten verbunden sein kann.
Jared Diamond, der sich Gedanken darüber gemacht hat, warum Menschen oder Gesellschaften überleben (oder untergehen), meinte erstens, viele Probleme würden nicht im Voraus als solche erkannt. Oder, zweitens, wenn das Problem dann erkannt ist, wird es verdrängt. Gesetzt den Fall, das Problem gerät aber doch auf die private oder öffentliche Traktandenliste, passiert nicht selten – drittens – dass es trotzdem negiert wird. Viertens, wenn alle, die guten Willens sind, um nach Lösungen zu suchen – gelingt dies, oder unter Umständen nicht. Diese nicht repräsentative Aufzählung wäre aber nicht vollständig, ohne die fünfte, sehr beliebte Missbrauchsvariante: Probleme, die gar keine sind, werden künstlich inszeniert.
Diese Aufzählung hat, zugegebenermassen, etwas Deprimierendes an sich. Doch gleichzeitig etwas Spannendes. Wenn wir das verstehen wollen, sind wir gut unterwegs.
Es ist auch das Verdienst Nassim Talebs, wenn heute mehr Menschen als früher realisieren, dass in unserer oft naiven Erwartungshaltung die grösste Fallgrube der Problem-Problematik liegt. Noch immer tendieren wir dazu, die Vergangenheit als Modell für die Zukunft zu missbrauchen. Deshalb werden wir in regelmässigen Abständen überrascht durch Ereignisse, deren plötzlicher Einbruch in die Wirklichkeit von Experten als höchst unwahrscheinlich und deshalb als unvorhersehbar ausgeblendet wird (Bsp. Atomreaktorkatastrophen). Soviel als Präambel zu unserer Problemgesamtschau.
An deren Anfang steht also die Tatsache, dass Probleme nicht erkannt werden, weil damit noch keine Erfahrungen gemacht wurden. Schon im Zeitraum von einer bis zwei Generationen gerät das Wissen über vergangene Ereignisse in Vergessenheit. Wer erinnert sich von den Jungen heute, 40 Jahre später, noch der Ölkrise von 1973? Benzinknappheit war die (unliebsame) Folge. Und wer kann sich, 70 Jahre danach, der Auswirkungen der Lebensmittelrationierung in der Schweiz entsinnen? Gesunde, statt übergewichtige Menschen waren eine der (positiven) Konsequenzen.
Werden Probleme schliesslich erkannt, erstaunt es immer wieder, wie sie von Menschen verdrängt werden. Das Paradebeispiel ist die globale Erderwärmung. Die Wissenschaft warnt seit Jahrzehnten vor deren Langzeitfolgen. Den betroffenen, finanzstarken Lobbys dieser Welt (Öl-, Gas-, Energie- und Autoindustrie) gelingt es problemlos, den kollektiven Verdrängungsprozess mit schönen Geschichten und Bildern in Gang zu halten.
Wird ein Problem trotzdem virulent und gerät ins öffentliche Bewusstsein, wird es nicht selten negiert. Zwar ist der Mensch stolz auf seine Fähigkeit, sich „rational“ zu verhalten. Dessen ungeachtet werden Systemzwänge beschworen, um zum Beispiel völlig widersinnige Subventionen zu rechtfertigen. Flächendeckend verbreitet, sind in vielen westlichen Demokratien die Agrarsubventionen. Sie behindern den Strukturwandel, verfälschen die Weltmärkte und lassen eine (gut organisierte) Minderheit profitieren - zulasten der Mehrheit.
Zu guter Letzt, wenn drängende Probleme weder länger ignoriert, verdrängt oder negiert werden können, werden Task Forces eingesetzt, um sich der Lösungsfindung anzunehmen. Trotzdem kann das Vorhaben scheitern. Anschauungsunterricht in der Schweiz bietet die Suche nach Atomendlagerstandorten oder die Schaffung grosser Asylzentren.
Jetzt fehlt in meiner Problemstaffel nur noch die Missbrauchsvariante. Personen und Verbände bedienen sich ihrer, um politisch Andersdenkende von deren Ansichten abzubringen. Unter strikter Verschweigung ihrer tatsächlichen Beweggründe (Eigen- oder Partikularinteressenwahrung), werden über Wochen spaltenfüllende Horrorkampagnen und Verlustszenarien zusammenfabuliert. Auf diese Weise werden Probleme hochstilisiert, die allzu oft gar keine sind.
Das Festhalten am Status quo kann für die Unfähigkeit rechtzeitiger Problemlösung ein Grund sein. Damit eng verbunden ist der oft unsichtbare, zweite Grund. Für einige Menschen ist es sehr nützlich, wenn diese Probleme bestehen bleiben. Es wäre an der Zeit, jene Protagonisten zu durchschauen, deren privater Machterhalt durch den Fortbestand eines Problems garantiert wird. Es sind die aus dem Hintergrund agierenden Fädenzieher einiger Branchenverbände. Hierbei geht es dann um den Erhalt von Privilegien für Konzerne, Berufsgruppen, KMU, Bauern oder Immobilienbesitzer. Und nicht zuletzt geraten Exponenten politischer Gruppierungen in den Fokus.
Lassen wir das Bild der Pyramiden von Gizeh vor unseren Augen entstehen. Die massiven Steinstufen entsprachen der Hierarchie aller Bevölkerungsklassen. Das grandiose Bauwerk diente als Begräbnisstätte für Könige. Fast 5000 Jahre später können wir in unserer (Problem-)Pyramide die Hierarchiestufen aller Problemkategorien erblicken. Unsere Pyramide ist die letzte Ruhestätte für Machtausübende, die durchschaut wurden.
Das quadratische Fundament dieser Pyramide entspricht unserer naiven Erwartungshaltung gegenüber unwahrscheinlichen Ereignissen. Darüber geschichtet sind die Quader des Nichterkennens von Problemen, da die relevante Erfahrung fehlt. Noch höher, aber kleiner in der Dimensionierung, liegen Probleme, die zwar erkannt, aber verdrängt werden. Als nächste Stufe folgt jene der Problemnegierung. Bald sind wir ganz oben. Hier lagern die Lösungen. Ganz zuoberst, sozusagen als Spitze des Denkmals (denk mal!), verstecken sich alle Probleme, die eigentlich gar keine wären.
Das gezielte Herunterspielen von Problemen und das Verzögern oder gar Verhindern zeitgemässer Lösungen ist wohl so alt, wie die Menschheit in Demokratien zusammenlebt. Kam es vor 2500 Jahren deswegen im antiken Griechenland zu Katastrophen, wurden die Verantwortlichen des Landes verwiesen – wenn sie Glück hatten. Sonst drohte ihnen die Todesstrafe. Heute leben wir im Westen in „fortschrittlichen“ Staaten.
Gibt es in der Schweiz Probleme, die seit Jahren der Lösung harren? Unsere Regierung reagiert – routinemässig mit schweizerischer Verzögerung – auf Veränderungsdruck von aussen. Es fällt nicht schwer, zu beurteilen, weshalb. Schweizerinnen und Schweizer wollen gar keine starke Regierung, wird uns seit Jahrzehnten erzählt. Von wem? Jetzt beginnen Sie, geschätzte Leserin, geschätzter Leser, am besten wieder von vorn mit dieser kleinen Kolumne.Verstehen heisst durchschauen!