Die anhaltende Zersiedelung gilt als das grösste Versagen unserer Raumplanung. Der streitbare Architekt („Stadtwanderer“) Benedikt Loderer meint dazu: „Alles Gerede über den haushälterischen Umgang mit dem Boden ist Schall und Rauch, alles Naturschutzgeschwätz ist warme Luft…“, (aus: „Die Landesverteidigung“). Die Kulturlandinitiative wird sabotiert, das Raumplanungsgesetz verwässert: tatsächlich verprassen wir laufend unser Naturkapital.
Papiertiger Raumplanung
Seit dem 1. Mai 2014 ist das revidierte Raumplanungsgesetz (RPG) in Kraft. Darin werden die Kantone verpflichtet, ihre Siedlungsgebiete zu begrenzen, die Bauzonen allenfalls zu redimensionieren, respektive überschüssige auszuzonen. Das RPG überlässt den Kantonen die Ausführung und Überwachung. Da aber Rückzonungen vielleicht Entschädigungsforderungen auslösen könnten, dient nur schon dieses Gerücht als bequeme Begründung kantonaler Verzögerungstaktiken.
Raimund Rodewald, Geschäftsleiter der Stiftung Landschaftsschutz und Mitträger der zurückgezogenen Landschaftsinitiative, spricht deshalb von einer verwässerten Wirkung des RPG.
In unserer föderalistischen Schweiz schieben die Kantone dessen Umsetzung auch nach unten, an die Gemeinden. Wie wir längst wissen, ist diese kommunale Zuständigkeit der Hauptgrund, weshalb der seit dem letzten Jahrhundert in der Bundesverfassung verankerte Artikel 75 Raumplanung („Der Bund legt Grundsätze der Raumplanung fest. Diese obliegt den Kantonen und dient der zweckmässigen und haushälterischen Nutzung des Bodens und der geordneten Besiedelung des Landes“) nicht zufriedenstellend funktionierte.
Der Vorschlag, im Interesse einer vernünftigen Entwicklung Teile der Planungskompetenz deshalb nach oben, zum Kanton zu verschieben, provozierte sofort geharnischte Reaktionen. Die Seilschaften in den Gemeinden sehen darin einen Angriff auf die Gemeindeautonomie und damit ihr persönliches Netzwerk gefährdet.
Schutzgebiete als Bauzonen
Noch bevor die Detailarbeit eventueller Rückzonungen beginnt, schlagen Umweltverbände Alarm. Viele Bauzonen, besonders im Wallis, liegen heute in Auen, Mooren, Trockenwiesen und Reservaten. Angesichts des Gummiparagraphen des Bundesamtes für Raumentwicklung (ARE), der neue Bauzonen zulässt, sofern „absehbar sei, dass die Bevölkerung wachse und sich neue Firmen ansiedelten“, ist es nicht verwunderlich, dass Kantone möglichst viele Bauzonen ausscheiden wollen. Dies wiederum hat zur Folge, dass der Druck auf verdichtetes Bauen, um die Zersiedelung zu bremsen, viel zu gering bleibt.
Erinnert man sich der eidgenössischen Volksabstimmung von 2013, als das neue RPG mit grosser Mehrheit angenommen wurde, kommt ein mulmiges Gefühl auf. Stimmbürgerinnen und Stimmbürger kommen sich verschaukelt vor. Die ursprüngliche Absicht des Gesetzes, das ungebremste Wachstum von Bauzonen zu drosseln, wird mit diesem Ausnahmeparagraphen ad absurdum geführt. Dies ist, um es deutlich zu sagen, staatspolitisch fragwürdig.
Revision des RPG
Es erstaunt deshalb nicht, dass der Bundesrat im Dezember 2014 die Zügel straffer anzog und eine Vorlage zur erneuten Revision des Raumplanungsgesetzes in die Vernehmlassung schickte. Es geht ihm dabei vor allem um die Einzonung von Kulturland und um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Kantone.
Kanton Zürich: Kulturlandinitiative
Das Züricher Stimmvolk hiess im Sommer 2012 die Kulturlandinitiative gut. Diese verlangt, dass alle ökologisch wertvollen Flächen und Äcker im Siedlungsgebiet, die noch nicht eingezont sind, geschützt werden. Im Mai 2014 versenkte der Kantonsrat kurzerhand diese Initiative, indem er gar nicht auf die Umsetzungsvorlage eintrat. Worauf die Grünen eine Beschwerde am Bundesgericht einreichten.
Das Bundesgericht verpasste Ende Mai 2015 dem Kantons- und dem Regierungsrat eine Klatsche: Mit der einstimmigen Gutheissung dieser Beschwerde signalisierte das oberste Gericht, dass es die geplante zahnlose Umsetzung nicht goutiert. Es muss ein Gesetz her, die Revision des Richtplans reicht nicht. Ein Rüffel in dieser Klarheit ist eher selten.
Schweizerisches Umweltschutzgesetz: „Grüne Wirtschaft“
Bei dieser Aufgabe geht es im weitesten Sinne um Ressourcenschonung und Verbesserung der Ressourceneffizienz, um Planungsvorschriften und um die Idee, zukünftigen Generationen zu schützen. Dazu müssten wohl die richtigen Anreize verbessert werden. Ob dabei die Prinzipien einer liberalen und einer auf einen längeren Zeithorizont ausgerichteten Politik genügen werden, ist allerdings fraglich.
Natürlich liegen sich jetzt schon Economiesuisse und Swisscleantech in den Haaren. Economiesuisse ist der Meinung, die anvisierte Revision trage planwirtschaftliche Züge und es fehlte die wissenschaftliche Evidenz für die vorgeschlagenen Massnahmen. Swisscleantech zeigt sich wenig beeindruckt von dieser Kritik. Im Juni 2015 soll die eigene Ressourcenstrategie aufzeigen, dass der Modernisierungsbedarf des 30 Jahre alten Umweltschutzgesetzes dringend und ganz im Interesse der Schweizer Wirtschaft ist.
Einmal mehr kritisieren also gewisse Kreise das Eingreifen des Bundes als planwirtschaftlich. Auch der Autor dieser Zeilen ist kein Freund der Planwirtschaft. Allerdings sollte darüber nachgedacht werden dürfen, ob die bisherige liberale Politik nicht eher einer „Laissez-faire“-Strategie glich, als der Durchsetzung des Artikels 74 der Bundesverfassung: „Dieses Gesetz soll Menschen, Tiere und Pflanzen, ihre Lebensgemeinschaften und Lebensräume gegen schädliche oder lästige Einwirkungen schützen sowie die natürlichen Lebensgrundlagen, insbesondere die biologische Vielfalt und die Fruchtbarkeit des Bodens, dauerhaft erhalten.“
Wer sich im Land umsieht, wird nicht zum Schluss kommen, dass die liberale Auslegung in den letzten 30 Jahren sehr erfolgreich war. Eine gewisse zentrale Steuerung sollte also nicht prinzipiell abgelehnt werden, es sei denn, in Kantonen, wo der Naturschutz dem Ressort Landwirtschaft oder der Abteilung von Jagd und Fischerei angegliedert ist, wäre in der Vergangenheit die gesetzlich vorgeschriebene Umsetzung besonders vorbildlich und effizient umgesetzt worden…
Grenzen des Siedlungswachstums
Die Schweiz weist eine Fläche von 4 Millionen Hektaren auf, wovon rund eine Million auf unwegsame Berge, Fels und Gletscher entfallen. Ein weiterer Viertel besteht aus Wald, 0,5 ha aus Alpweiden und 0,4 ha aus Ackerland. Vom Rest (0,7 ha) sind heute rund 300‘000 Hektaren Siedlungsfläche, also bereits über 40%. Ein Zuwachs von rund 24% innert 25 Jahren. (Gleichzeitig nahm der Wald um 3,1% zu, die Landwirtschaftsflächen um 5,4% ab). Somit ging in dieser Periode in der Schweiz pro Sekunde 1,1 Quadratmeter Kulturland verloren.
Die ETH postuliert deshalb eine Entwicklungsstrategie, die gemeinsam von allen Mittellandkantonen zu formulieren wäre. Auch diese Idee: ein zarter Hinweis auf Überforderung einzelner Gemeinden, ja sogar Kantonen? Und: wieweit entfernt wäre ein solcher Zusammenschluss der Kantone von eidgenössischen Richtlinien, auch despektierlich genannt „Planungswirtschaft“?
Fünf Thesen zur Raumplanung und Zersiedelung
Eine lesenswerte Interpretation zur leicht konfusen, aktuellen Situation hat die Sophie und Karl Binding Stiftung mit ihrer dreisprachigen Broschüre „Fünf Thesen“ 2014 publiziert. Die neuen Autoren formulieren diese (hier natürlich abgekürzt dargestellt) so:
- Die Zersiedelung gilt als das grösste Versagen der Raumplanung.
- Der Föderalismus und die Direkte Demokratie sind nicht an der Zersiedelung schuld.
- Sie eröffnen Spielräume – für gute, aber auch für schlechte Raumplanung.
- Starke wirtschaftliche Triebkräfte erschweren den Vollzug der Raumplanung und sind mitverantwortlich für die Zersiedelung.
- Beschlossene und noch bevorstehende Reformen der Raumplanung auf Bundes- bzw. Kantonsebene eröffnen Chancen für die wirksame Bekämpfung der Zersiedelung.
Punkt 2 und dessen Begründung ist, ich erlaube mir diese Bemerkung, für den Autor dieser Zeilen in ihrer Absolutheit schwer nachvollziehbar. Meine Frage: wer denn sonst?
Marschhalt, vorwärts oder gar rückwärts?
Eigentlich geniesst der Landschaftsschutz grosse Sympathie und gesellschaftliche Unterstützung beim Schweizer Volk. Landschaftsthemen waren auf gutem Weg: 2008 Verbandsbeschwerderecht (66% Zustimmung), 2012 Zweitwohnungsinitiative (50,6%) und 2013 Raumplanungsgesetz 63%). Auch im Kanton Zürich mit der Kulturlandinitiative und im Kanton Genf mit der Initiative zum Erhalt der öffentlichen Grünanlagen bewies die Bevölkerung eine erhöhte Sensibilisierung, ja Sorge für intakte Landschaften.
Kurt Flury, Präsident des Stiftungsrates der Stiftung Landschaftsschutz, fasst diesen Trend so zusammen. „1. Erhaltung der noch unverbauten Schweiz und Lenkung der Siedlungsentwicklung nach innen. 2. Wirksame und sofortige Eindämmung der Zersiedelung. 3. Die Umweltverbände sollen ihr Beschwerderecht zugunsten einer fairen und korrekten Interessenabwägung zwischen Schützen und Nutzen weiterhin einsetzen.“
Doch, was in den kantonalen Parlamenten und in den eidgenössischen Räten inzwischen aus diesen Volksverdickten entwickelt wurde - da macht sich doch eine gewisse Ernüchterung breit. Besonders aktiv am Verwedeln der ursprünglichen Ideen sind auch jene politischen Kreise, die jahraus, jahrein davon erzählen, in der Schweiz sei das Volk der Souverän.
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