Vor 97 Jahren schrieb Albert Einstein in einem Brief: „Nationalismus ist eine Kinderkrankheit. Die Masern der menschlichen Rasse.“ In Abwandlung dieser berühmten Bemerkung ist mit dem Titel dieses Beitrags suggeriert, dass auch der ansteckende Virus Rechtspopulismus Erwachsene befallen kann. Nationalismus und Rechtspopulismus sind verwandt.
Rechtspopulismus
Rechtspopulistische Parteien sprechen im Allgemeinen diffuse Ängste der Bevölkerung vor Modernisierung und Umbrüchen an und beantworten sie mit einfachen, einseitigen Parolen, die der politischen Klasse und „den Andern“ die Schuld an Missständen geben. „Wir gegen die da oben“, lautet einer ihrer Slogans. Charakteristisch für die Personalstruktur ist eine starke Führungsfigur, die sich bewusst Tabubrüche und Provokationen erlaubt, um sich vom politischen und wirtschaftlichen Establishment abzusetzen. Dafür versprechen sie „Sicherheit in Freiheit“ und konservative Identitätsstiftung durch Abgrenzung - im Rahmen eines ausgeprägten Nationalismus.
Nationalismus
Schon vor über 60 Jahren warnte der Kulturphilosoph Jean Gebser („Ursprung und Gegenwart“) vor dem „Verhaftetsein an den Nationalismus“. Er argumentierte, dass das nationalistische Denken ein Prototyp des alten Denkens wäre, das „den Menschen als Kind einer Nation auffasst, welches die eigene Nation als ideale Konstante begreift, anstelle einer dynamischen Einzelentfaltung eines grösseren Kulturkreises“. Ungefähr zur gleichen Zeit definierte Karl Raimund Popper („Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“) den Nationalismus als ein Relikt des ur-instinktiven Gefühls der Stammeszugehörigkeit, dominiert von Leidenschaft und Vorurteilen.
Sehnsucht nach einfachen Antworten
„Je unübersichtlicher unsere Welt wird, desto grösser ist die Sehnsucht nach einfachen Antworten“, schrieb Stephan Wehowsky zutreffend im Sommer 2013. Globalisierung der Wirtschaft, Verwerfungen innerhalb der Gesellschaft, politischer Druck aus dem Ausland – Verärgerung, Angstgefühl, Trotzhaltung machen sich breit, auch in der Schweiz. Populisten nehmen das auf, vereinfachen, emotionalisieren und instrumentalisieren die diffusen, persönlichen Wahrnehmungen und schüren unterschwellige Ressentiments. Vermeintlich steigende Ungleichheit in der Gesellschaft wird medial ausgeschlachtet und verstärkt das Gefühl der Ungerechtigkeit, für die jemand verantwortlich zu machen ist. Wer? Die Andern. Das ist der Moment der grossen Populisten. Sie kennen die Lösungen. Sie halten einfache Antworten auf die Fragen der Verunsicherten bereit. Das Problem ist nur: diese einfachen Antworten können keines der Probleme langfristig lösen. Weil die „Nebenwirkungen“ dieser Brachialtherapien übersehen wurden.
CS Sorgenbarometer
Seit 10 Jahren steht zuoberst auf diesem jährlich erhobenen Sorgenkatalog in der Schweiz: Arbeitslosigkeit (auch Jugendarbeitslosigkeit), gefolgt von Personenfreizügigkeit (auch Zuwanderung). Das populistische Rezept ist so einfach: Man instrumentalisiert diese Angstreiber, fragt, wer dafür verantwortlich ist („die masslose Zuwanderung“), verspricht die einfache Lösung („wir kontrollieren und bestimmen die Einwanderung selbst“) und fertig ist das Erfolgsrezept…
Europas Tea-Partys
Seit Monaten nimmt der „Economist“ auf seinem ungetrübten Radar die steigende Tendenz zu Tea-Partys in Europa auf. Diese konservativen und populistischen Protestbewegungen mit Wurzeln in den USA sammeln die Unzufriedenen aller Schattierungen. Diese sind wütend. Ihre Basisüberzeugung: die politische und wirtschaftliche Elite hätte den Kontakt zum Volk verloren, die Steuern müssten gesenkt werden und die Einwanderung sei die grösste Gefährdung der sozialen Ordnung. So unzusammenhängend wie diese Feststellungen sind die Lösungsvorschläge. Sie halten einer seriösen Durchleuchtung nicht Stand. Einen Zusammenhang aber kennzeichnet sie. Populisten, die für den Erhalt ihrer konservativen Einsichten kämpfen, stehen hinter diesen Tea-Partys. Sie verfügen über riesige persönliche Vermögen, die sie generös, aber diskret einsetzen. Unrühmlichstes Beispiel in Europa: Berlusconi, der – obwohl inzwischen aus der offiziellen Politik ausgebootet – keine Gelegenheit auslässt, die italienische Regierung weiterhin zu untergraben.
In Norwegen kennt man die Fortschritts Partei (Progress Party), in Dänemark die Volkspartei, in England die Independence Party (UKIP). Auch in Schweden ist die rechtspopulistische Partei SD erfolgreich, die Polterer am rechten Rand der konsensorientierten politischen Tradition stellen das Selbstbild des weltoffenen und humanitär engagierten Nordens zunehmend in Frage. Der Front National FN in Frankreich hat sich längst etabliert, inzwischen mit Marine Le Pen als Anführerin. Die Freiheitlichen in Österreich brachten es im Herbst 2013 auf knapp einen Drittel der Stimmen; der Milliardär Frank Stronach (mit seiner Partei TS), der aus den USA kam, hat sich inzwischen bereits wieder verabschiedet. Geert Wilder’s Freiheitspartei PVV in den Niederlanden hat sich im Hinblick auf die Wahlen 2014 ins Europäische Parlament schon mal medienwirksam mit Marine Le Pen verbrüdert (verschwestert?). Die Wahren Finnen, die Piraten und der AfD in Deutschland, sie alle haben gemeinsam, dass sie Angst und Wut artikulieren; die Provokation ersetzt ein Programm.
Der Milliardär Andrej Babis („Babisconi“ in Anlehnung an Berlusconi) hat mit seiner „Bewegung unzufriedener Bürger“ in Tschechien bei den Wahlen im Oktober 2013 stark gepunktet. In Ungarn ist die Regierungspartei Fidesz mit 53% der Stimmen sogar die stärkste rechte Kraft in Europa, die Jobbik-Partei ist gar offen faschistisch oder neonazistisch. Die „Goldene Morgenröte“ in Griechenland polemisiert vor allem gegen Einwanderer. Auch in Indien ist der autoritäre Populist Narendra Modi auf dem Vormarsch und Favorit für das höchste Amt im Land.
In der ZEIT (24.10.2013) war zu lesen, dass Martin Stutzman, Tea-Party-Getreuer in den USA, sein Programm so formulierte: „Wir wollen nicht mehr entwürdigt werden. Wir wollen irgendwas kriegen. Und ich weiss nicht einmal, was das ist.“
Das Grundmuster ist überall dasselbe. Inzwischen ist auch des TV-Entertainers Peppe Grillo’s „Movimento 5 Stelle“ in Italien am Auseinanderbrechen. Sie haben es ins Parlament geschafft, dort versagen sie kläglich. Die Kost, die diese „Partys“ dem Wutbürger servieren ist zu einfach. Übrigens: in der Schweiz braucht es keine Tea-Party, wie von Hans Kaufmann im Herbst 2013 gefordert. Hierzulande gibt es eine Milch-Party. Sie nennt sich allerdings nicht so und sie bekommt auch keine Subventionen. Sie braucht keine…
Das Monster EU
Mehr oder weniger allen europäischen Rechtsaussen-Populisten gemeinsam ist Kampf gegen die Europäische Union. Ihre patriotisch aufgeheizte Grundhaltung des „Gegen-die-da-oben“ richtet sich gegen Brüssel. Ihr Aufstand ist motiviert durch das diagnostizierte Fehlverhalten von Regierungen und Politikern, die Schuldenmachen propagierten, ausser Rand und Band geratene Banken schützten und den Euro fälschlicherweise zum Symbol für Gedeih oder Verderb der EU hochstilisierten. Die Folgen für die Mittelschicht sind desillusionierend: „In the past five years ordinary people have paid a price for these follies, in higher taxes, unemployment, benefit cuts and pay freezes“ (das Volk bezahlte für diese Verrücktheiten in den letzten fünf Jahren mit höheren Steuern, Arbeitslosigkeit, stagnierenden Einkommen), so der Economist (January 4th, 2014). „Wir wollen unser Land zurück“, meint der Engländer Nigel Farage und Wilders doppelt nach: „Weniger Europa, mehr Holland“. Ein Franzose drückt sein Ungemach so aus: „Mein Groll richtet sich gegen Europa, den Euro und die selbstgefälligen politischen Leaders, die uns in dieses Chaos führten.“
Das Europa der Patrioten
Diese Entwicklung ist brandgefährlich. Die Demagogie der rechten Führer und Führerinnen mit ihren Pauschalschuldzuweisungen und simplen Lösungen für alle Probleme kaschiert eine alte, schon in Vergessenheit geratene Konsequenz. „Ein nationalistisch aufgeheiztes Europa war stets auch ein von Kriegen und Krisen gebeuteltes Europa – und wird es wohl auch künftig sein“, gibt Philipp Löpfe (TA 30.11.2013) zu bedenken. Jene Generationen, die die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts miterlebt haben, sollten ihren Kindern und Enkeln davon erzählen.
Zu kritisieren gibt es überall, jede Regierung macht Fehler – Politikerinnen und Politiker sind Menschen, die Dinge auch mal falsch einschätzen – im Nachhinein einfach zu diagnostizieren. Jene, die es immer besser wussten, sind auch Menschen.
Reagieren statt Polemisieren
Regierende in Europa müssen die Zeichen des Sturms, das ankündigende Wetterleuchten, ernst nehmen. Das Verharren in Ideen oder Konzepten, die sich im Lauf der Zeit als fehlerbehaftet erweisen, ist Starrsinn und Wasser auf die Mühlen der Brandstifter. Gutgemeinte Modelle können Jahrzehnte später auf dramatische Weise ins Gegenteil kippen. Die Personenfreizügigkeit in Europa – als Beispiel – hat Kräfte entfacht, die weder voraussehbar waren, noch ignoriert werden können. Sie müssen dringend intelligent kanalisiert werden, bevor bei Hochwasser die Dämme brechen. Sonst droht die Idee eines Europa der vier Freiheiten gesamthaft in Gefahr zu geraten.