Einerseits suchen einzelne Parteien den Schulterschluss durch Listenverbindungen, andererseits werden sie immer intoleranter, was das Zusammengehen mit anderen Parteien betrifft.
Sind Listenverbindungen überhaupt clever?
Wenn sich die FDP für eine Listenverbindung mit der SVP ausspricht (übrigens mit 82 zu 81 Stimmen der Delegierten), stellt sich für viele Wählende die logische Frage, was das soll. Dürfen freisinnige Menschen jetzt ausgerechnet mit der SVP paktieren? Zeichnet sich da ein Rechtsrutsch ab? Bahnt die FDP-Spitze den Weg, um sich auf diese Weise den populistischen Schlachtgesängen anzunähern? Denn dass die SVP bei diesen Wahlen obenaus schwingen wird, daran zweifelt eigentlich niemand. Nur – ist das für unser Land eine wünschenswerte Zukunftsperspektive?
Gleichzeitig will sich die SVP thematisch nicht von Nicolas Rimoldi («Mass-voll») distanzieren, um eine grosse bürgerliche Allianz zu ermöglichen. Spätestens da müssten sich die bürgerlichen Wählerinnen und Wähler fragen, ob eine solche Idee nicht eher dem Corona-Skeptiker Rimoldi nützt als umgekehrt. Bekanntlich «bläst Rimoldi mit den ‹Freunden der Verfassung› zusammen zum Sturm aufs Parlament» (Blick). 2021 posierte Nicolas A. Rimoldi auf Fotos mit Maske. Ein Jahr später wollte er den «Bundesrat hinter Gittern sehen und träumt vom ‹Volks¬aufstand› gegen die ‹faschistischen Zwangs¬massnahmen›» (Republik).
Der Politikwissenschaftler Daniel Bochsler stellte im Tages-Anzeiger fest, dass bei solchen Allianzen «in der Tendenz das Gesetz gilt, dass die grössere Partei mehr Chancen hat als die kleine».
Drohungen mit Opposition statt Lösungssuche
Sie wollen jetzt einen Bundesrat – die Grünen. Eigentlich ist das bei diesen Wahlen kein Thema, doch es symbolisiert die Mentalität eines Parteipräsidenten. «Wir haben einen Anspruch!» Diese Haltung ist selbstredend: Auf Biegen und Brechen wird gekämpft; dass dabei Lösungen in den Hintergrund geraten, wissen wir zur Genüge.
Die Polarisierung, die auch im Parlament zunimmt, ist eine unschöne Zeiterscheinung. «Links, urban, gebildet – und intolerant», schreibt Bettina Weber in der Sonntags-Zeitung. Sie kommt zum Schluss, dass gerade diejenigen, die für sich in Anspruch nehmen, besonders offen zu sein, in Tat und Wahrheit andere politische Meinungen am wenigsten akzeptieren. Eine Studie des «Mercator Forum für Migration und Demokratie» am Zentrum für Verfassungs- und Demokratieforschung der Technischen Universität Dresden kommt zu obigem Befund. Tatsächlich kann auch in der Schweiz eine Tendenz beobachtet werden, wonach eine «zunehmende Verknüpfung von politischer Meinung und kollektiver Identität» (Sonntags-Zeitung) stattfindet. Die fatale Folge: Politische Kompromisse bleiben aus. Anders gesagt: Das eigene Weltbild wird nicht mehr nur als politische Haltung, sondern zunehmend als Teil der eigenen Identität verstanden.
Ob die Politologin Sarah Bütikofer (Uni und ETH Zürich, Uni Basel) mit ihren Vorschlägen, wie man die Situation entschärft, für Besserung sorgen könnte? Da man die fehlende Wertschätzung für Politikerinnen und Politiker in der Bevölkerung schwerlich verändern kann, könnte man es – so ihr Vorschlag – mit höheren Entschädigungen und Verbesserungen der Parlamentsorganisation, einem Überdenken der bisherigen Sitzungszeiten oder dem Zugang zu Weiterbildungen versuchen (Tages-Anzeiger). Wie sich das positiv auf die Problematik der steigenden Polarisierung in der Politik auf allen Ebenen (Bund, Kantone, Gemeinden) auswirken soll, wäre allerdings auszuprobieren.
Wie sich Kandidatinnen und Kandidaten selbst sehen
Landauf, landab wurden in diesen Tagen Kandidatinnen und Kandidaten für die Parlamentswahlen in den Medien befragt. Stellvertretend, aber aussagereich folgen hier einige Beispiele. So sagt Mattea Meyer, SP-Co-Präsidentin, von sich, sie sei als Schülerin eine Streberin – gewissenhaft und fleissig – gewesen (Neue Zürcher Zeitung). Sie hält Ehrlichkeit für wichtig – eine Tugend, die sich auch in der Parlamentsarbeit positiv auswirken sollte. Christina Bachmann-Roth (Mitte Frauen) nervt sich darüber, dass der Wischiwaschi-Vorwurf ihr gegenüber ein falsches Bild vermittle. Die Käserin von Beruf freut sich dagegen über die positive Beurteilung ihrer Person durch die Milchbauern. «Elle a du punch», attestieren ihr diese (Tages-Anzeiger). Balthasar Glättli, Chef der Grünen, fühlt sich durch seine Tochter zusätzlich politisch motiviert, «jetzt noch einmal alles zu geben» (Neue Zürcher Zeitung). Er wünscht sich, noch charismatischer auftreten und reden zu können – wie zum Beispiel sein Vorbild Bill Clinton.
FDP-Chef Thierry Burkart redet über seine Selbstzweifel – ob er das, was er tue, richtig mache? Diese Gedanken würden auch anderen Kandidierenden gut anstehen, natürlich nicht nur diesen, sondern uns allen. Auf die Feststellung der Interviewerin, er wirke eher kontrolliert, kommt seine Antwort postwendend: «Es ist ja nicht verkehrt, wenn man zuerst denkt, bevor man spricht.» Danke – auch das könnte für uns alle gelten (Neue Zürcher Zeitung). GLP-Präsident Jürg Grossen, der nicht gerne liest und es für ineffizient hält, über die grossen Fragen des Lebens nachzudenken, sagt von sich, er könne manchmal auch «eklig» sein, obwohl er ja als Firmenchef seine Mitarbeitenden sehr schätzt. Unfairness bringt ihn im Übrigen aus der Fassung (Neue Züricher Zeitung).
Der Blick zurück
Was hat die vergangene Legislatur gebracht? Welche Probleme wurden gelöst? Die drängendsten politischen Baustellen – warum werden sie immer zahlreicher? Wessen Schuld ist es? Diese Fragen müssen beantwortet sein – an den alten und neuen Ratsmitgliedern wird es indirekt liegen, ob die Pendenzenliste weiter ansteigt oder endlich abnimmt. Sie können und müssen mehr Druck auf den Bundesrat (Exekutive) ausüben.
Die abgelaufene Legislatur hinterlässt in der Bevölkerung gemischte Gefühle, was Bundesrat und Parlament anbelangt. Dies liegt daran, dass von den grossen Herausforderungen, vor denen die Schweiz steht, keine gemeistert werden konnte. Die Liste der drängendsten Baustellen – ich thematisiere diese Pendenzen seit vielen Jahren – wird immer länger:
– Schweiz-EU-Verhältnis: Das Rahmenabkommen scheiterte. Nach dem eigenmächtigen Entscheid des Bundesrates Ignazio Cassis wurden die Verhandlungen am 25. Mai 2021 abgebrochen. Das Volk wurde nicht befragt. Seither herrscht Funkstille zur EU – die Leidtragenden und die Verlierer sind wir, die Schweiz, unsere Jugend und die Exportindustrie.
– Neutralitäts-Blockade: Auch hier ist die Haltung des Bundesrats unzeitgemäss. Anstatt einer Nation – notabene vom Aggressor Russland unter dem Kommando von Wladimir Putin überfallen – beizustehen und die Neutralitätsfrage zeitgemäss zu interpretieren (wie es die Schweiz seit jeher zu pflegen tat), versteckt er sich hinter Klauseln.
– Nachhaltigkeitsgebot, Klimawandel, Energie: Es wurde viel geredet. Wirklich nachhaltig wirkende Gesetze sind nicht in Sicht. Die Klimaerwärmung wird zur Kenntnis genommen. Die Energieversorgung wird immer prekärer (siehe Schweiz-EU-Verhältnis).
– Gesundheit, Krankenkassenprämien, Renten: ein Dossier, in dem vor lauter Problemen dem Departementsvorsteher wohl die Übersicht verloren gegangen ist. Er ist allerdings nicht zu beneiden.
– Landwirtschaft: Die stärkste Lobby im Bundeshaus verhindert zukunftsfähige Reformen in der Landwirtschaft, ignoriert die weltweit sichtbar werdenden neuen Ernährungstrends, die weg von Milch und Fleisch führen. Dafür bezahlen Schweizerinnen und Schweizer jährlich 3,5 Milliarden an Subventionen und nochmals ungefähr gleich viel an Zollabgaben, um den Schweizer Bauernmarkt abzuschotten.
Dies sind nur die allerwichtigsten Probleme, die einer Lösung harren. Was hat das mit den kommenden Parlamentswahlen zu tun, werden Sie sich vielleicht fragen. Die beiden Kammern sind an der Gestaltung der Aussenpolitik mitbeteiligt, sie erteilen dem Bundesrat Aufträge, eine Planung vorzunehmen oder die Schwerpunkte einer Planung zu ändern. Sie können darüber hinaus auch Grundsatz- und Planungsbeschlüsse fassen. Oder sie können vom Bundesrat Wirksamkeitsüberprüfungen verlangen (über bestehende Subventionen als Beispiel). So steht es jedenfalls auf der Homepage der Bundesverwaltung.
Aus dieser Warte betrachtet, liegt es an jedem gewählten National- oder Ständeratsmitglied, sich dafür einzusetzen, dass sich unser Land in Zeiten eines epochalen Wandels nicht von seinen europäischen Freunden abkapselt, dass es die neuen Bedingungen einer sich rasch wandelnden Welt wahrnimmt und entsprechende Lösungen bereithält.