Zeit für einen guten Vorsatz
Geburtstagskinder erhalten üblicherweise Geschenke: Blumen, Wein, Schokolade. Diesmal ist alles anders, ich schlage vor, dass wir uns – in Vorbereitung auf den denkwürdigen Tag – eines guten Vorsatzes erinnern:
Mitmenschen besser verstehen zu wollen!
Wenn wir uns dafür entscheiden, ebnen wir Wege, um Abneigung durch Beachtung, Ablehnung durch Akzeptanz, Verurteilung durch Kenntnisnahme, politische Feindschaft durch Kooperation, gesellschaftliche Ignorierung durch ehrliches Interesse zu ersetzen. Letztlich: permanenten Kampf durch sinnvolle Kooperation zu ermöglichen – auf der Weltbühne hiesse dies Frieden statt Krieg.
«Rechts und links schreien sich nur noch nieder»
Im Juni 2023 äusserte sich Mitte-Präsident Gerhard Pfister im Samstagsgespräch des Tages-Anzeigers: «Wenn überall laut herumgeschrien wird, muss ich ja nicht mitbrüllen.» Er mag dabei den politischen Alltag im Bundeshaus vor Augen gehabt haben, insbesondere die Tatsache, dass die eidgenössischen Wahlen vom Oktober 2023 näher rücken.
Allerdings trifft Pfisters Feststellung nicht nur auf den politischen, sondern auch auf den gesellschaftlichen Alltag zu. Wer in diesen Tagen aufmerksam Medien konsumiert, wird feststellen, dass der Ton («c’est le ton qui fait la musique») in den zeitdominanten Themen wie Genderdebatten, Cancel Culture oder M-Hysterie («Mohrenkopf») immer schriller wird. Gesprächsteilnehmende verstehen einander nicht mehr.
Wer sich dessen bewusst wird, realisiert, dass wir a) Wichtigeres zu verhandeln hätten als diese oben erwähnten, eher nebensächlichen Themen und b), dass es nicht nur an den ständig steigenden Hitzewellen unseres Klimas liegen kann, dass die Gesprächslautstärke den Inhalt der Debatten bei weitem übertrifft. Könnte es sein, dass wir das Gegenüber gar nicht verstehen wollen?
«Viele Dinge zu wissen, bedeutet noch nicht, sie zu verstehen.» (Homer, ~850 v. Chr.)
Dass wir uns heute noch, rund 2800 Jahre nach Homer, auf dessen Aussage berufen, zeigt eines: Sich nicht verstehen hat etwas damit zu tun, dass wir in egoistischer Weise meinen, etwas zu wissen, besser zu wissen als andere Menschen. Ist dies die Folge dessen, dass heute alle, die etwas zu wissen meinen, diese Botschaft auf Social Media kundtun können – je ausgefallener diese Meinung, desto mehr Follower?
Vergessen ging dabei wohl, was ein anderer, vor rund 2500 Jahren, gesagt haben soll: «Ich weiss, dass ich nichts weiss.» Dass wir uns über diesen Mann, der auf seine Weise versuchte, zu verstehen, auch heute noch wundern, lässt vielleicht den Schluss zu, dass Sokrates auf seine ganz persönliche Art des Fragens sein Gegenüber und sich selbst daran erinnern wollte, wie bescheiden unser aller Wissen ist.
Und schliesslich: Wenn wir realisieren, dass die Menschheit sich offensichtlich seit Jahrtausenden mit der Thematik «Besser verstehen» befasst, können wir daraus schliessen, dass sie darin nicht sehr erfolgreich war und ist? Dass die unendliche Abfolge von Kriegen überall auf der Erde die logische Folge dieses Misserfolgs ist? Dass der beklagenswerte Angriffskrieg Putins auf die Ukraine konsequenterweise diesem globalen Muster folgt?
Neu statt alt denken
Das Volk der Griechen, so scheint es mir, wurde vor 2500 Jahren Träger der damaligen weltwirtschaftlichen Entwicklung, basierend auf Handel und Schifffahrt – rund um das Mittelmeer hatten sich griechische Kolonien gebildet. Vorläufer einer «Globalisierung»? Kaufleute und Seefahrer waren wohl die ersten Zweifler an den überlieferten Lebensformen, Denkweisen und religiösen Vorstellungen ihrer jeweiligen Heimat gewesen. Denn wo viele Glaubensbekenntnisse aufeinandertrafen, die alle die Wahrheit zu vertreten vorgaben, konnte sich leicht Zweifel an allen breitmachen.
Die damalige tausendjährige Epoche der griechischen Philosophie, das Auftreten einer Reihe von kreativen Denkern – anders gesagt: einer Gruppe von neu denkenden Männern – begann damit, dass sie alle – unter Befreiung von theologischen Vorstellungen – nach einem Urstoff auf die Suche gingen, der Naturphilosophie. Diese Vorsokratiker dachten «naiv», das heisst noch nicht «dogmatisch». Das antike Griechenland – in dem sich im 5. und 6. Jahrhundert v. Chr. praktisch gleichzeitig an verschiedenen Orten das philosophische Denken «in höchst originellen Köpfen zu philosophischer Weltansicht verdichtete – bietet ein Schauspiel, das in der Geistesgeschichte kaum seinesgleichen hat.»1
Neu denken, was verstehst du darunter, werde ich immer wieder gefragt. Primär basiert es auf einem Perspektivenwechsel: War altes Denken vergangenheitsbezogen, konservativ/bewahrend, nicht hinterfragend, so ist neues Denken zukunftsbezogen, liberal/innovativ, kritisierend. Ohne konsequenten Fokus auf die Zukunft gibt es kein neues Denken. Dieser Perspektivenwechsel passt nicht allen. Jene Gruppe führender Menschen, die in der Gegenwart meinungsbestimmend auftreten, die sich als «Führer» berufen fühlen, auch die bekannten Populisten und verharrenden Konservativen, sie alle – die vom gegenwärtigen Zustand profitieren – wehren sich konsequent gegen das Neue. Auch das ist altbekannt. Sokrates – jener bescheidene Philosoph – musste mit seinem Leben dafür bezahlen, dass er neu dachte.
Der gegenwärtige Epochenwandel
Wenn wir heute ahnen, mitten in einem epochalen Wandel zu stehen, lässt sich das sehr wohl mit jenem vor 2000 Jahren vergleichen. Die Treiber sind andere als damals. Waren es einst die neue Schrift, die Ausdehnung der wirtschaftlichen Beziehungen im Mittelmeerraum (lokale Globalisierung) und die bahnbrechenden neuen Erkenntnisse (die Götter im Himmel verloren ihren Status), so sind es heute die Informationstechnologie mit der Überwindung der Zeit und die Verkürzung der Distanzen (Globalisierung), der Einsatz der Künstlichen Intelligenz (KI) mit ungewissen neuen Erkenntnissen.
Schön wäre es, wenn es im Laufe des gegenwärtigen Epochenwandels Menschen gelingen würde – nach einer mehrtausendjährigen Probezeit – sich besser verstehen zu wollen.
1 Zollinger, Christoph: «Epochaler Neubeginn – Update nach 2500 Jahren», Europäischer Hochschulverlag, Bremen (2011)