Wir können stolz sein auf die Schweiz von 1848. Damals, vor rund 175 Jahren, geschah in unserem Land Epochales. 23 Kantonsvertreter «erfanden» die Schweiz neu. Sie dachten neu. Ganz Europa blickte nach Bern und wurde Zeuge eines veritablen Geniestreiches: «Es entstand die Verfassung der ersten lebensfähigen Demokratie in Europa.»¹
Wer hat’s erfunden?
Bundespräsident Ulrich Ochsenbein hielt vor den Gesandten der Tagsatzung und Gästen eine engagierte, flammende Willkommensrede. Er wollte die Eidgenossenschaft umgestalten, erneuern. Es war die «kühnste Rede, die je bei einem ähnlichen Anlass gehalten wurde»², kommentierte später ein Abgeordneter. Diese Rede war nicht nur an die Schweiz, sondern an Europa gerichtet, galt es doch, eine Aufgabe zu lösen, die von allerhöchster Wichtigkeit war: Einerseits wollten die politischen Eliten das liberal-radikale Revolutionslabor in Europa zerschlagen, andererseits sympathisierten ihre Völker offen mit dem eidgenössischen Kampf um Demokratie und Selbstbestimmung.
In der Folge zimmerten die kantonalen Abgeordneten innert 57 Tagen eine neue helvetische Verfassung, es entstand ein politisches Gesamtkunstwerk, dank radikal neuen Ideen und Kompromissbereitschaft. Die moderne Schweiz wurde die einzige demokratische Republik Europas. Spiritus Rector beim Findungsprozess war der 37-jährige Ulrich Ochsenbein, der zuvor eine Ungleichzeitigkeit der geistig-materiellen und der politisch-sozialen Entwicklungsgeschwindigkeiten diagnostiziert hatte.
Die Schweiz im Sommer 2025
In der heutigen Umgangssprache würden wir wohl von verschiedenen Geschwindigkeiten reden, in denen sich Wirtschaft und Politik (und die Bevölkerung) bewegen. Doch – anders als damals – ist weit und breit kein «Ochsenbein» in Sicht, kein Spiritus Rector, der sich der Mammutaufgabe verschrieben hätte, die Eidgenossenschaft umzugestalten und zu erneuern. Während sich unsere Wirtschaft bravourös schlägt, was Innovationen, neue Konzepte und Verhaltensveränderungen mit Fokus Zukunft betreffen, bewegen sich Bundes-, Stände- und Nationalrat im gewohnten Schritttempo von einer Sitzung und Session zur nächsten.
Gibt es einen neuen politischen Entscheid im Hinblick auf zukünftige Szenarien, wird am nächsten Tag das Referendum dagegen angekündigt. Seit rund 30 Jahren sind wir nicht in der Lage, unser Verhältnis zur EU zu klären. Lieber führen wir eine 13. AHV-Rente ein (bei der Gewerkschafts-Propagandisten vor der Abstimmung lauthals verkündet haben, die Finanzierung sei geregelt) – allerdings streiten sich 15 Monate später die zuständigen Räte noch immer darüber, woher das Geld dafür zu nehmen ist.
Während Europa und die Welt mit Gentechmethoden der Landwirtschaft unter die Arme greift, verlängert die Schweiz mit einem Gentech-Moratorium bis 2030 erneut jede Aussicht auf Reduktion giftiger Schadstoffe in Spritzmitteln. Machen wir einen zaghaften Schritt Richtung CO2 -Reduktion, sabotiert der zuständige Bundesrat auf Druck der Autolobby sogleich mit neuen Regeln jeden Fortschritt. Und wenn in europäischen Ländern die Verschiebung des Rentenalters der Arbeitnehmenden von 65 auf 67, gar 70 Jahre ins Auge gefasst wird, fordert hierzulande eine Gruppe für Baby-Eltern 36 Wochen-Familienzeit. Und das Parlament berät neuerdings allen Ernstes einen Schuldenerlass für hoch Verschuldete, als hätten wir keine anderen Probleme.
Um auch die Bevölkerung im aktuellen Blick auf die Schweiz nicht zu übersehen: Die Umfragen im Volk zeigen nicht zum ersten Mal auf dem Sorgenbarometer zuoberst die Gesundheitskosten respektive Krankenkassenprämien, gefolgt von den steigenden Gefahren des Klimawandels und an dritter Stelle die Altersvorsorge. Was diese Statistiken nicht erwähnen: Alle drei Bereiche widerspiegeln Trends, die von eben dieser Bevölkerung selbst genährt werden, von ihren trendigen Lebens- und Verhaltensgewohnheiten über Ferien- und Mobilitätsansprüche bis zum Ernährungsverhalten.
Die Reform der Schweiz
Das rückwärtsgerichtete Bewältigen von Problemen ist das eine, das zukunftsfokussierte, kreative Ersinnen von Modellen für die nächsten 50 Jahre das andere. Routine diktiert in der Schweiz den Tagesablauf, für den Blick nach vorn bleibt keine Zeit. Erschwerend kommt hinzu, dass die rechtsnationale Politik mit ihrem Prädikat der Vergangenheitsverklärung die Sicht seit Jahren zusätzlich trübt.
Die liberalen Kräfte im Land müssen die Verführungskraft dieser Populisten akzeptieren, «die mit der Schimäre einfacher Wohlfühllösungen» (NZZ) punkten. Dieses Phänomen ist auch in fast allen EU-Staaten zu beobachten. Die Werte des Liberalismus und der Demokratie müssen verteidigt werden und das geht nicht, ohne einfache und verständliche Antworten zu kommunizieren – für jene, die (weltweit) nur die simplen Botschaften verstehen können.
Um die einstigen Vorteile der kreativen Schweiz nicht schleichend zu opfern, ist es höchste Zeit, Zukunftsforen mit Personen aufzubauen, die wie Ochsenbein damals vor 175 Jahren für frischen Wind sorgen.
¹ Rolf Holenstein: «Stunde Null – Die Neuerfindung der Schweiz 1848», 2018
² Rolf Holenstein: «Ochsenbein – Erfinder der modernen Schweiz», 2009