Alle Reformen im Gesundheitswesen sind blockiert. Warum? Weil zu viele Involvierte – Lobbyisten genannt – gar nicht wollen, dass sich etwas ändert.
Spitäler am Limit
Immer lauter tönt der Alarmruf aus den Spitälern: Überlastet! Einerseits sind es die Kinderspitäler, andererseits die Notfallstationen, die besonders betroffen sind. Zu wenig Personal, heisst es unisono. Die Leiterin einer solchen Station stellt resigniert fest, dass es das fehlende Personal, das dringend nötig wäre, gar nicht gebe. Dieser Zustand ist seit Jahren bekannt. Hinzu kommt die Tendenz, und das ist besonders problematisch, dass zu viele Personen wegen Bagatellfällen, statt ihren Hausarzt, gleich die Notfallzentren aufsuchen. So kann es nicht weitergehen! Die Politik ist gefordert.
Wir fahren das Gesundheitswesen an die Wand
Ketzerische Frage: Müssten wir nutzlose Therapien streichen und geschultes, nicht ärztliches Personal einsetzen, um milde Erkrankungen zu behandeln? Pumpen wir viel zu viel Geld ins Gesundheitswesen – bald sind es jährlich 90 Milliarden Franken? Und wie viel davon versickert irgendwo im System? Es ist nicht irgendjemand, der solche Fragen stellt. In einem Interview im Tages-Anzeiger spricht Daniel Scheidegger, Ex-Chefarzt Anästhesie am Unispital Basel, Klartext. Während Jahren war er zuvor u.a. Präsident des Fachorgans Hochspezialisierte Medizin der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) und des Swiss Medical Board (SMB) gewesen, das sich für die Überprüfung von unnötigen Therapien und Untersuchungen einsetzt.
Es sind vor allem fünf Punkte, die er am heutigen Zustand kritisiert:
1. Im Moment ist alles politisch blockiert, was das Gesundheitswesen betrifft. «Diejenigen, die vom aktuellen System profitieren, sind politisch so stark, dass in absehbarer Zeit ohne Druck nichts ändern wird.» 2. Man müsste die Zusammenarbeit mehrerer Kantone fördern (wieder einmal erweist sich der Kantönligeist als Schwachstelle). 3. Wir alle zahlen und zahlen, nicht nur über die Prämien, sondern über die Steuern (Anmerkung: Wenn ein Patient kein Geld hat, muss der Staat bezahlen). 4. Ein seit längerem diskutiertes Globalbudget zur Bekämpfung der Kosten wird vor allem bei der Ärztevereinigung FMH bekämpft. 5. Die Lobbys sind einfach zu stark: Wenn die aufwendigen Beurteilungsprozesse beim BAG für die Streichung nutzloser Behandlungen und Untersuchungen abgeschlossen sind, blockiert am Ende jeweils die Pharma- und Medtech-Lobby alles.
Scheidegger weiss, wovon er spricht. Er verweist auf seine langjährige Tätigkeit in verschiedenen nationalen Gremien und sagt: «Es war beeindruckend, zu sehen, welche Macht die verschiedenen Interessengruppen ausüben und wie sie so Reformen verhindern können. Das geschieht alles versteckt bei Behörden, in Verbänden, Gremien und sowieso im Parlament.»
Problematische Medienberichte
Reisserische Überschriften in Printmedien warnen: Tausenden von Patientinnen und Patienten droht der Verlust ihres Therapieplatzes in der Psychologie. Der Grund: Infolge eines Rechtsstreits weigern sich die Krankenkassen des Verbandes Santésuisse, die Behandlung bei rund 1500 (!) Psychologinnen und Psychologen zu bezahlen. Dabei handelt es sich um jene, die ihre Weiterbildung noch nicht abgeschlossen haben. Die Föderation Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) gibt die Schuld den Krankenkassen von Santésuisse (andere Krankenkassen bezahlen unter Vorbehalt).
Ein anderer Bericht titelt: Systemversagen in der Psychiatrie. Jeder Arzt darf in Zürich eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik anordnen. 16'000 solche Zwangsmassnahmen gibt es jedes Jahr. Das ist europäischer Rekord. Auch hier beobachten wir, wie der Kantönligeist seine Blüten treibt. Denn wie ist es zu erklären, dass in Zürich oder Neuenburg die Zwangseinweisungen dreimal häufiger vorkommen als in Appenzell Innerrhoden, in Obwalden oder im Wallis?
Fragen über Fragen
Jetzt heisst es, die Schweiz müsse wieder mehr Psychiaterinnen und Psychiater ausbilden. Ähnliches erleben wir bei Ärztinnen und Ärzten: Je mehr Arztpraxen eröffnet werden, desto rascher steigen die Gesundheitskosten. Mehr desselben ist selten eine gute Lösung, das hat schon Watzlawick festgestellt. Gäbe es andere Lösungen?
Basel und Zürich sind Pioniere bei der Behandlung von psychisch Kranken in der eigenen Wohnung. Speziell ausgebildete Pflegefachleute besuchen die Patientinnen und Patienten regelmässig und stehen auch sonst mit ihnen in Kontakt (NN). So wie die Spitex eine zeitgemässe Form von Betreuung für hilfsbedürftige Menschen anbietet (mit dem enormen Vorteil, diese statt im Spital zuhause pflegen zu können), könnte eine ähnliche Form auch bei psychischen Problemen angestrebt werden. Da müssten dann wohl die Gemeinden aktiv werden.
Wenn jetzt geschrieben wird, dass eine Gesellschaft, die ihre Jungen und Alten leiden lässt, versage, ist das Panikmache. Neue Statistiken wollen beweisen (Statistiken beweisen immer das, was die Auftraggeber bewiesen haben wollen), dass insbesondere die Hospitalisierungen vieler Mädchen und junger Frauen in die Höhe geschossen sind – dies u.a. zufolge Leistungsdruck in Schule und Job und mit dem andauernden Vergleichsstress in den Sozialen Medien (NZZ). Müsste dann nicht eher den Ursachen als der «sofortigen bestmöglichen psychologischen Unterstützung» nachgegangen werden?
Da sind wir mitten in den gesellschaftlichen Zeiterscheinungen und die lassen sich nicht so einfach wegtherapieren.