Immer wieder lesen und hören wir, dass viele Verkaufspreise in der Schweiz gegenüber jenen für identische Produkte im benachbarten Ausland krass überhöht wären. Dies trifft zweifellos zu, die Begründungen, warum dies so sein müsse, sind in der Mehrzahl fadenscheinig, durchsichtig und oft schlicht falsch. So hat, zum Beispiel, diese absurde Situation mit höheren Löhnen in der Schweiz fast gar nichts zu tun.
Reformen haben es schwer
Einmal mehr stellen wir fest, dass Reformen oder auch nur Teilrevisionen in der Schweiz blockiert, bevor sie überhaupt diskutiert werden. Eine unheilige Allianz vehementer Gegner, die aus Partikularinteressen den momentanen Zustand aus ihrer Sicht als optimal betrachtet, verbündet sich jeweils kurzfristig und verweigert die Diskussion. So ist es im März 2014 der angestrebten Revision des Kartellrechts ergangen. Im Nationalrat stimmte eine Mehrheit für Nichteintreten. Zwar haben FDP, GLP und der Wirtschaftsminister für Eintreten geworben – aus völlig unterschiedlichen Gründen brachten SVP, CVP, Grüne, (und indirekt Gewerkschaften und Gewerbeverband) das Anliegen vorzeitig zu Fall.
Der Fall zeigt exemplarisch, warum die Schweiz einen enormen Stau an Reformprojekten aufweist. Lieber nichts ändern, als liebgewordene Pfründe infrage zu stellen. Mit Scheinargumenten werden Ablenkungsmanöver geführt. Zwar ertönt in auch diesem Fall überall und laut der Ruf nach mehr Wettbewerb. Der Linken sind die überhöhten Verkaufspreise ein Dorn im Auge, doch die Gewerkschaften bekämpfen gleichzeitig eine Modernisierung der Gesetzgebung. Auf der Rechten wird lauthals für eine Belebung des Wettbewerbs plädiert, doch SVP und Gewerbeverband blockieren aus „grundsätzlicher“ Opposition.
Einkaufstourismus
Bis zu 10 Milliarden Franken jährlich sollen Schweizerinnen und Schweizer im benachbarten Ausland für billigeres Einkaufen im Detailhandel ennet der Grenzen ausgeben. Basler, Genfer und Tessiner führen diese Tourismusliste an – aus nachvollziehbaren Gründen. Wer die Verkehrsschilder TI in Cannobio (I) zählen will, ist schlicht überfordert. Natürlich ist das für Coop und Migros ein Ärgernis. Doch dass Frauen und Männer dort einkaufen, wo vergleichbare Ware wesentlich billiger ist – wer soll ihnen das verargen? Lebensmittel, Kosmetik, Kleider, Schuhe sind bei uns 25-75% teurer. Kehrte ein Teil dieser Einkäufe in die Schweiz zurück, würden Arbeitsplätze entstehen. Die Migros rechnet mit in diesem Fall mit 3000 zusätzlichen Arbeitsplätzen je Milliarde Franken Umsatz. Folgerichtig weisen die grenznahen Kantone auch die höchsten Arbeitslosenquoten unseres Landes auf (natürlich nicht nur aus diesem Grund).
Schöne Worte
Mehr Wettbewerb und offene Importmärkte würden uns allen guttun. Nicht zuletzt auch den KMU, die beim heutigen Bezugszwang von Produktionsmitteln zu überhöhten Preisen das Nachsehen haben. „Damit bleiben auch viele der bestehenden Vertriebsstrukturen vor dem Wettbewerb geschützt“, kritisiert Roger Zäch, emeritierter Rechtsprofessor und früherer Vizepräsident der Wettbewerbskommission (TA). Man kann daraus getrost ableiten, dass die Gegner der vorgeschlagenen Kartellrechtsbestimmung die Abschottung der Schweiz durch marktbeherrschende Unternehmen befürworten. Denn das heutige Kartellgesetz (das also nicht geändert werden soll) ist ein Papiertiger: Preisabsprachen oder Nichtlieferdrohungen können nur dann bestraft werden, wenn diese Praxis fahrlässigerweise schriftlich fixiert wurde. Doch welcher Produzent ist so dumm?
Wenn also die Gewerkschaften – sonst jederzeit bereit, sich über zu hohe Preise zu ärgern – die Reform des Kartellrechts bekämpfen, muss man wissen, dass damit eine Neuausrichtung der zahnlosen Wettbewerbskommission verbunden wäre, in der die Gewerkschafter neu nicht mehr vertreten wären. Laut lachen darf man andererseits, wenn Caspar Baader von der SVP beteuert, das heutige Kartellgesetz biete genügend Schutz für den Wettbewerb. So oder so, die Weko in der heutigen Form ist tatsächlich unbefriedigend. Der Ständerat möchte sie verkleinern und professionalisieren, der Bundesrat unabhängiger machen und zu einem Wettbewerbsgericht, das gegen „unangemessene“ Preise handeln könnte, umbauen. Der Nationalrat will offenbar in seiner Mehrheit weder, noch. Tiefere Preise für Konsumentinnen und Konsumenten, KMU, Restaurants, Gewerbler und Handwerker sind da kein Thema.
Avenir aktuell stört sich daran (01/2014), dass Wettbewerbskommission und Preisüberwachung überhaupt über die Kompetenz verfügen sollen, zu entscheiden, was unter unangemessenen Preisen zu verstehen sei. Dies sei weitgehend unklar, denn der Wert eines Gutes sei letztlich immer subjektiv. In diesem Fall scheint diese Logik etwas zweifelhaft. Wenn ich für eine Nivea-Creme in Konstanz deutlich weniger zu bezahlen habe als in Kreuzlingen, ist doch wohl der Wert des Gutes nicht tangiert.
Wohlstandsinsel Schweiz
Einzelne Beobachter der Szene orten den Grund für höhere Preise in unserem Land darin, dass Konsumentinnen und Konsumenten über viel Kaufkraft, also ein dickeres Portemonnaie verfügen und daher wenig preissensibel sind. Dies allein erlaubt es den Anbietern, in der Schweiz höhere Preise zu verlangen. Auch andere Gründe werden ins Feld geführt. Inländische Sonderregelungen – wie für die einheimische Landwirtschaft – behindern den grenzüberschreitenden Handel. Als genüge dies nicht, hat die Wirtschaftskommission des Nationalrats kürzlich eine Vorlage in die Vernehmlassung geschickt, die zusätzliche Handelshemmnisse bringen würde (Ausschluss vom Cassis-de-Dijon-Prinzip).
Geht es Schweizerinnen und Schweizern tatsächlich so erfreulich, dass ihnen überhöhte Preise schnuppe wären? Diese Begründung ist ebenso gesucht, wie täglich widerlegt. Warum die täglichen Autokolonnen an unseren Grenzübergängen? Warum die starke Motivation für einen „Tagesausflug“ ins Nachbarland? Fragt man etwa die schwerbeladenen Tessiner in Cannobio, ist die Antwort klar: Selbst wenn die Fahrkosten und das Mittagessen eingerechnet werden, lohnt sich der „Seitensprung“!
Am liebsten keine Reformen
Nachdem der Ständerat anfangs Juni 2014 Eintreten auf die Reformvorlage beschlossen hat, geht diese also zurück an den Nationalrat. Ob es der nationalrätlichen Wirtschaftskommission gelingen wird, mit Retuschen am Paket den Nationalrat umzustimmen, ist mehr als zweifelhaft. Solange alle Involvierten an ihren Sonderwünschen festhalten, ist das Scheitern vorauszusehen. Ganz unverhohlen kommt von rechts aussen die Botschaft, dass ein Totalabsturz der unbeliebten Reform angepeilt werde. Grosse Konzerne werden weiterhin von der Hochpreisinsel Schweiz profitieren.
Dieses Szenario führt zur Frage, ob im Parlament berechtigte Gesamtanliegen der Bevölkerung – nicht zum ersten Mal – verdrängt und überholte, unwirksame oder kontraporduktive Regelungen zementiert werden zugunsten engstirniger, leicht durchschaubarer Partikularinteressen.