Im Norden führte Königin Angelika I. das Zepter. Sie war geachtet und wurde respektiert, weit über die Landesgrenze hinaus, auch wenn sie weder Befehle erteilte, noch ihre Untertanen gross behelligte. Ihre Zauberkraft lag im Beobachten, Abwägen und Schweigen. Wahrhaft eine fast feenhafte Ausstrahlung, wofür sie auch von ihrem jungen, stürmischen Nachbarn auf der anderen Seite des Rheins bewundert wurde.
Dort, südwestlich, im Land der Revolutionen, residierte seit kurzem Kaiser Macaron, obwohl von kleiner Statur genannt „der Grosse“; wahrlich in den Fussstapfen seiner berühmtesten Vorgänger aus vergangenen Jahrhunderten auf den Champs wandelnd. Das Reformtempo, das er für seine Compatriotes eingeschlagen hatte, war absolut atemberaubend.
Im Süden, dort wo einst die Renaissance aufgekeimt war, dirigierten abwechselnd - und immer nur auf Abruf - Fürsten unterschiedlichster Herkunft. So oder so zog ein Cavaliere aus dem abgeschirmtem Hintergrund fintenreich die politischen Fäden: diskret, zuvorkommend und ohne besonders den ehrenwerten Mitbürgern je zu nahe zu treten.
Zurück zum kleinen Land in den Alpen. In den unsicheren Tagen jener Zeit der Verweltlichung litten viele seiner Bewohnerinnen und Bewohner an der harten Wirklichkeit und den diskriminierenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Nicht wenige fühlten sich ungerecht behandelt, waren sie doch noch nie auf einer Kreuzfahrt gewesen, noch hatten sie Zugang zu einem der vielen vornehmen Golfclubs. Auch beklagten sie sich zu Recht über die zu schmalen Parkfelder für ihre Cherokees und die überall im Weg stehenden, kleingewachsenen Touristen, die ja nur Augen für sich selbst vor ihrem Handy hatten.
Die Zeiten waren tatsächlich hart. Die üppigen LED-Lichterketten zur weihnachtlichen Beleuchtung des Gartens und Balkons waren längst ausverkauft, ebenso die günstigen Foie gras-Aktionen. Selbst die grossen Bordeaux-Weine des Jahrhundertjahrgangs 2015 hatten die Chinesen ihnen weggeschnappt.
(„Utopien teilen Wünsche und Träume mit und enthüllen damit Leiden an der Wirklichkeit, an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen…)*
Doch dann passierte am letzten Tag der Wintersession in Bern, also kurz vor Weihnachten, im Bundeshaus Erstaunliches. Mitten in die Jahres- und Sessionsabschluss-Feiern, bei denen es eher fröhlicher als feierlich zuging, platzte die auf facebook und Twitter fast gleichzeitig verbreitete Nachricht, dass das nächste Jahr zum „Jahr des Friedens“ erklärt worden sei. Absender dieser koordinierten, kurzfristig angesetzten, in drei Sprachen gehaltenen Weihnachtsbotschaft waren die Regierungssitze in Berlin, Paris, Rom, elektronisch signiert von Königin Angela I., Kaiser Macaron und dem gerade herrschenden gentilen Fürsten.
Der Text lautete: „Angesichts der sozialen Ungleichheit, des urbanistischen Durcheinanders, einer Welt voller Gewalt und Unterdrückung“* fordern wir alle Politikerinnen und Politiker der EU-Mitgliedländer, inklusive jenen der Brexit-Märchenerzähler/innen-Insel und natürlich auch des kleinen Landes im Herzen Europas, dazu auf, ihre Kriegsbeile zu begraben und im nächsten Jahr, vorerst versuchsweise, die überholte politische Parteien-Devise „permanenter Kampf“ zu ersetzen durch „konstruktiven Kompromiss“.
Ungläubiges Kopfschütteln, laute Sprachlosigkeit und knisternde Ergriffenheit machte sich also gleich in den traditionsreichen Sälen der eidgenössischen Räte breit. Doch dann sprachen alle gleichzeitig. „C’est la revolution!“, rief ein Bundesrat. „Mit Gottes Hilfe schaffen wir das!“, freute sich die Dame von der EVP. „Nur unter einer Bedingung: wir bleiben trotzdem unabhängig und neutral!“, knurrte ein älteres Mitglied der Partei für die Schweiz. „Wir kämpfen für Freiheit, wie sollen wir den Kampf durch Kompromiss ersetzen“, zweifelte der Vizefraktionspräsident. „Pour tous, sans privilèges!“, triumphierte le président. „Primo, la lotta contro i premi in aumento!“, gestikulierte ein Ticinese. “Und was ist mit dem Vaterschaftsurlaub?“, die Dame im grünen Deux-pièces war sichtlich verunsichert. „Sagen wir doch seit jeher!“, lächelt die Fraktionspräsidentin aus der Mitte.
Gegen Abend beruhigte sich die Situation. Bevor sie mit der SBB (1. Klasse) nach Hause fuhren, schüttelten sie sich alle die Hand und schauten sich tief in die Augen. „Abgemacht! Kompromiss statt Kampf!“ versicherten sie sich gegenseitig. Schliesslich stand Weihnachten vor der Tür, das Fest der Liebe und Versöhnung.
*Utopien der Neuzeit, heisst die Vorlesung im Wintersemester bei Bernd Roeck an der Universität Zürich. „Der Rückblick auf die Geschichte der Utopie mag sein besonderes Interesse daraus beziehen, dass er aus einer Zeit erfolgt, die keine Utopien mehr zu haben scheint“ (Roeck).