Kürzlich schrieb ein Professor für Zeitgeschichte in den Medien über die Reformunfähigkeit der Schweiz. In der ewigen Debatte über Staatsleitungsreformen (Bundesrat) kommt er zum Schluss, dass der Ruf nach Regierungsreformen zwar regelmässig ertönt, gelungen wäre er jedoch während über 150 Jahren nie. Jetzt ist die Bundespräsidentin in die Offensive gegangen. Sie fordert Schweizerinnen und Schweizer auf, neu zu denken. Da mögen sich jetzt die Angesprochenen etwas perplex fragen: Ja, wie denke ich denn neu?
Im Zusammenhang mit dem „überraschenden“ Finanzdebakel und der weltweiten Finanzkrise der Jahre 2007-2010 hat sich gezeigt, dass unser weit verbreitetes lineares Denken nicht nur am Entstehen der Probleme ursächlich mitbeteiligt war, sondern dass wir alle generell, die Politiker im speziellen und gewisse Bundesräte ganz besonders, verhaftet sind im alten Denken. Wir denken nicht strategisch zukunftsgerichtet und wir klammern in unseren Überlegungen die unwahrscheinlichen Ereignisse aus – mit überraschenden oder verheerenden Folgen, die wir ganz einfach unterschätzen. Wie ist das gemeint?
Unser Verhalten im Zusammenhang mit dem Zufall, der Unsicherheit, der Wahrscheinlichkeit und dem Wissen ist, gelinde gesagt, manchmal etwas naiv. Das Versagen der traditionellen Erklärungsansätze der Wissenschaft und der Prognostiker ist eklatant. Die mathematischen Modelle, mit denen zum Beispiel die Banken ihre Positionen bewerteten, erwiesen sich als falsch. Sie hatten das „Nicht-für-möglich-Gehaltene“ schlicht ausgeklammert. Die Frage: „Was wäre, wenn?“ wurde schon gar nicht gestellt. Das alte Denken verdrängt Unbequemes aus den Prognosen, Undenkbares aus den Strategien, Unwahrscheinliches aus den Zukunftsszenarien. Es wird schon gut gehen.
Der aus dem Libanon stammende Universalgelehrte Nassim Nicholas Taleb ist Essayist, Empiriker und Mathematiker. Seit seiner Jugend ist er von der Unprognostizierbarkeit des Lebens gezeichnet. Seine Theorie: „Der Mensch macht systematisch Fehler, wenn er von der Vergangenheit auf die Zukunft schliesst. Und: Wir haben uns eine Welt geschaffen, die wir noch nicht verstehen.“ Zeitungen liest er seit längerem nicht mehr, „… Medien sind der Gipfel der Irrelevanz.“
Talebs Hauptaussage geht ungefähr so: Wir können den Lauf der Geschichte (oder den Verlauf eines Aktienkurses, die Entwicklung der Sozialversicherung) nicht voraussagen, da wir die Ausreisser nicht voraussagen können. Wir produzieren Projektionen und dabei ist die Summe der Fehler gigantisch. Wir halten Beobachtungen aus der Vergangenheit fälschlicherweise für etwas, was definitiv oder repräsentativ für die Zukunft ist. Mit unserem logischen Denken neigen wir dazu, aus einer Fülle von Daten (aus der Vergangenheit) Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen. Dieses rückwärtsgerichtete Denken hat einen beunruhigenden Effekt: Etwas hat in der Vergangenheit funktioniert, bis – na ja, es funktioniert jedenfalls unerwarteterweise nicht mehr, und das, was wir aus der Vergangenheit gelernt haben, erweist sich bestenfalls als irrelevant oder falsch, schlimmstenfalls als furchtbar irreführend.
Jetzt erinnern wir uns zum Beispiel der Reaktionen des Bundesrates auf das UBS-Debakel und auf die Attacken des schweizerischen Bankgeheimnisses aus dem Ausland. So etwas Unerhörtes war bislang undenkbar gewesen – altes Denken eben. Logischerweise gab es auch keine Szenarien zur Bewältigung dieses Ausreissers.
Wir haben – auch unsere Denkfabriken – generell Mühe damit, in Strukturbrüchen zu denken. Wir verzichten lieber darauf, das Unmögliche zu denken. Sehen wir eines Tages ein, dass dieses alte Denken im Zeitalter der Globalisierung und der Zeitbeschleunigung durch das Internet nicht mehr zeitgemäss sein könnte? Sollten wir uns gezielt auch damit befassen, wie unser Land, unser Bundesrat, unser Verhältnis zu Europa aussehen könnte, wenn gar Unwahrscheinliches passieren würde? Damit befassen heisst Szenarien entwickeln, um vorbereitet zu sein. Das wäre das neue Denken.
In seinem Bestseller „The black Swan“ („Der schwarze Schwan“) entlässt Taleb sein Publikum mit versöhnlichen, ja philosophischen Ratschlägen. So rät er etwa, nicht den ausgetretenen Pfaden zu folgen (Herdentrieb). Oder: unseren Fernseher auf den Dachboden zu stellen, kaum noch Zeitungen zu lesen, Blogs zu ignorieren und dafür unsere Denkfähigkeit zu trainieren.
Jetzt sehen wir die Reformunfähigkeit der Schweiz vielleicht aus einem anderen Blickwinkel. Wir erkennen, dass viele der wichtigen politischen Kräfte im Land noch immer in Kategorien der Vergangenheit denken. So ist zum Beispiel für die Bundesratswahl weniger das Können, die nachweislichen Verdienste oder gar das neue Denken der Kandidatinnen und Kandidaten gefragt – entscheidend sind Proporz, Parteikalkül oder gar persönliche Animositäten. Altes Denken. Wo bleiben die National- und Ständeräte, die auch Unmögliches denken können, etwa: Wie könnte die Schweiz von einem starken, innovativen Bundesrats-Team profitieren?