Irgendwann, in einem jener seltenen Momente, in denen sich die aufgeregten Diskussionen in Bundes-Bern weder um Burka-Verbot, UBS, Staatsvertrag mit den USA oder Geiselbefreiung in Lybien drehen werden, sollte sich die offizielle politische Schweiz auf die Zukunft unseres Landes konzentrieren. Eine Zukunft in Europa.
Seit dem Schicksalstag 6. Dezember 1992, als sich unser Land mit hauchdünner Mehrheit dafür entschied, dem EWR nicht beizutreten, vermeiden die im Rampenlicht stehenden Politikerinnen und Politiker die Europa-Diskussion. Zu heiss ist die Kartoffel, zu ungemütlich die Ausgangslage, zu verworren die Interessen. Die beiden politischen Pole sind, wie immer, grundsätzlich unterschiedlicher Meinung: Die Linke befürwortet einen EU-Beitritt, die Rechte sieht darin den Untergang der Schweiz. Es wäre an der Zeit, sich an einen runden Tisch zu setzen und wie Erwachsene über ein Thema zu diskutieren, das wir nicht länger verdrängen sollten. Nach bald zwanzig Jahren.
Vorerst gilt es, einige Fakten in Erinnerung zu rufen. Auch wenn Wirtschafts- und politische Kreise unermüdlich betonen, die Schweiz fahre mit dem praktizierten Bilateralismus gut, mag das aus dieser Perspektive gesehen für die Vergangenheit zutreffen. Aus anderer Perspektive hat der autonome Nachvollzug von EU-Recht in unserem Land einen eher deprimierenden Charakter. Ehrlicherweise müssen wir ferner akzeptieren, dass auch nach 18 Jahren noch immer Abkommen zur Dienstleistungsfreiheit, ebenso wie Verträge zur Niederlassungs- und zur Kapitalverkehrsfreiheit fehlen. Gerade im Zusammenhang mit dem UBS-Debakel ist auch die Nichtunterstellung unter die Beihilfekontrolle des EWR als Manko zu bezeichnen. Wie Carl Baudenbacher, Präsident des Efta-Gerichtshofs und Professor an der Uni St. Gallen kürzlich in der NZZ schrieb, „…die in den bilateralen Abkommen vorgesehenen diplomatischen Konfliktlösungsmechanismen sind ungenügend. Sie enthalten zu viele politische Elemente und schaffen zu wenig Rechtssicherheit. (…) Vor allem Vertreter der Wirtschaft betrachten den Bilateralismus mittlerweile als Dauerzustand. Dass man in den Tag hinein lebt und sich wie weiland Tarzan gleichsam von Liane zu Liane hangelt, wird verdrängt. Indes mehren sich die Anzeichen, dass die Möglichkeiten des bilateralen Wegs ausgeschöpft sind.“
Diese deutlichen Worte aus berufenem Munde sollten als Aufforderung zur seriösen Zukunfts-Debatte aufgenommen werden. Dabei stünde am Anfang jeder Diskussion jene vielerorts vergessene Definition und Legitimierung der EU: Die Tatsache, dass es seit 1945 zum ersten Mal in fünfhundert Jahren im EU-Raum keine Kriege mehr gab, dass es die Möglichkeit eines grossen europäischen Krieges nicht mehr gibt. Das ist eine welthistorische Leistung, die nicht genügend anerkannt wird. Jene Kreise, die unentwegt Brüssel kritisieren, von fremden Vögten schwafeln, auf Fehler innerhalb des EU-Konstrukts hinweisen sei mit aller Deutlichkeit gesagt: Diese verklärte Optik blendet das Wichtigste schlicht aus. Und, nicht wahr: Die Schweiz hat von diesem Zustand gewaltig profitiert, ohne sich massgeblich an den Kosten dieses Projekts beteiligt zu haben.
Statt die unerspriessliche Diskussion für oder gegen einen EU-Beitritt wieder aufzunehmen, hätten wir eine Alternative: Wir könnten einen zweiten EWR-Anlauf nehmen. Wir sollten vermeiden, uns im Moment im Kleinkrieg EU ja oder nein zu verhaspeln, die Zeit ist noch nicht gekommen, in der sich klare Mehrheiten bilden werden.
Die Möglichkeiten des bilateralen Wegs sind ausgeschöpft, die Vergrösserung der EU bewirkt automatisch, dass dieser Sonderzug ins Stocken gerät. Warum auf die Vorteile eines EWR-Abkommens verzichten? Längst müssen wir anerkennen, dass das EWR-Abkommen reibungslos funktioniert, als EWR-Staat wäre die Schweiz in der Efta-Überwachungsbehörde und im Efta-Gerichtshof vertreten. Aufgrund ihrer Einwohnerzahl, ihrer Wirtschaftskraft, ihrer Lage im Herzen Europas und ihrer Viersprachigkeit könnte sie im Efta-Pfeiler eine Führungsrolle beanspruchen. „Alles in allem ist es vorteilhafter, in einem aus vier Staaten bestehenden Efta-Pfeiler die erste Geige zu spielen, denn als Solist aufzutreten“, meint denn auch Carl Baudenbacher.
Die Souveränität der Schweiz – in einer global vernetzen Welt – würde dadurch nicht angetastet, ehrlicherweise wird ja mit dem Mythos der schweizerischen Souveränität viel Unfug getrieben. Wie souverän das Land ist – wie souverän jedes Land sein kann – haben die letzten zwei, drei Jahre eindrücklich gezeigt. Zudem wurde dieser Begriff zu lange mit schweizerischen Eigenschaften wie einem überholten Bankgeheimnis verknüpft, auch dieses Netz ist inzwischen gerissen. Jedenfalls ist eine gewisse Souveränität im Verbund mit Freunden mehr Wert als im Konflikt mit europäischen Nachbarstaaten.
Die EU-Kommission wird wohl die Schweiz bald einmal daran erinnern, dass der Bilateralismus lediglich als Interimslösung gedacht war. Sie drängt darauf, für bestimmte institutionelle Fragen neue, horizontale Lösungen zu finden. Auch der Europäische Gerichtshof hat kürzlich kritische Worte zum helvetischen Bilateralismus gefunden. Diese europäischen Aktivitäten sollten in unserem Land keinen Abwehrreflex auslösen, sondern als Aufforderung zur Lösungsfindung unter Nationen, die alle mit den gleichen grossen Zukunftsherausforderungen zu kämpfen haben. Wie Vergangenheit zeigt, bewegt sich unser Land nur schrittchenweise und auf Druck von aussen. Dies schliesst nicht aus, dass für einmal die Landesbehörden Zukunftsszenarien evaluieren, bevor dieser Druck wieder zu überhasteten Reaktionen führen wird.