Nicht zum ersten Mal ist die Kritik eines Nicht-Finanz-Spezialisten am Verhalten der Notenbanken in den USA, in Europa und der Schweiz aktuelles Thema in einer konfusen Welt. Auch Finanzmarkt-Profis sind der Meinung: «The World Has Gone Mad And The System Is Broken» wettert Ray Dalio in der NZZ. «Die Welt sei verrückt geworden und das System sei kaputt.»
Negativzinsen als Bankrotterklärung
Früher war man sich einig: Der Zins ist wichtiger Gradmesser des volkswirtschaftlichen Gesundheitszustands. So galten die Phasen mit Zinsen von deutlich über 5 Prozent als rekordverdächtige Inflationstreiber – unser Angespartes verlor jährlich an «Substanz». Mit allen Mitteln versuchte man diese Tendenz umzukehren. Angestrebt wurde eine moderate Inflation von knapp 2 Prozent.
Irgendwann nach der Finanzkrise von 2007/8 begannen die Notenbanken die Banken dieser Welt vor ihrem Grounding zu bewahren, man rettete Schwerkranke, indem man ihnen auf der Intensivstation des Finanzspitals neues Leben einhauchte. Quasi mit dem Beatmungsgerät der Geldpresse. Die Langfristfolgen kennen wir mittlerweile: Die Sparenden aller Länder werden für die Sünden der Hochfinanz bestraft. Die Pensionskassen werden ihrer Sparphilosophie beraubt. Kumulation der Absurdität: Seit Monaten müssen sie selbst den Zins bezahlen, sollten sie sich erdreisten, Geld auf die Bank, respektive die Zentralbank (Schweiz: Nationalbank) zu tragen.
Umgekehrt geht es zu in einer kaputten Welt der Schuldenmachenden. Belohnt wird heute, wer über seine Verhältnisse lebt. Wer Immobilien erwirbt oder baut, ohne über die notwendigen Mittel zu verfügen, erhält hypothekarische Stützung zu rekordtiefen Zinssätzen von knapp einem Prozent – bereits hört man von Irrsinns-Szenarien, die solche schiefen Tendenzen belohnen sollen mit Zinsgutschriften anstelle von -belastungen. Besonnene Bürgerinnen und Bürger schütteln ungläubig den Kopf. Notenbankchefs und Regierungen behaupten: «There is no alternative!»
Für die Schweiz heisst das: Die Halter von Hypothekarschulden in der Grösse von 1070 Milliarden Franken (weltweiter Spitzenplatz) sparen jährlich 20 Milliarden. Gleichzeitig verlieren die Sparenden auf ihren 1900 Milliarden Vermögen 38 Milliarden. Verkehrte Welt!
Die fatalen Nebenwirkungen einer falschen Medizin
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als wäre der Zins nach Jahrhunderten eines festen Indizes des Kapitalmarktes in diesen verrückten Zeiten zu einer Wunschgrösse der Zentralbanken degradiert worden. Die seit Jahren anhaltende Politik der manipulierten Liquiditätsversorgung kombiniert mit Tiefstzinsen (Flutung der Märkte) hat zwar kurzfristig die willkürlich deklarierte Zielsetzung der Notenbanken erfüllt, jedoch langfristig enormen Schaden angerichtet und nichts deutet darauf hin, dass «man» gewillt sei, das einzusehen. So hat der variable Zins längst seine volkswirtschaftliche Funktion eingebüsst, jene der Evaluation, ob sich ein Investment lohnt oder nicht. Oder ob Sparen als Vorsorgegedanke noch sinnvoll sei oder gar kontraproduktiv.
Mehr desselben
Gegenwärtig – in Corona Zeiten - wird wieder die Geldpresse angeworfen. Man spricht erneut von «einmaligen» Vorkommnissen, die diese primitive Art der Schadensbegrenzung rechtfertige. Man mag diesmal sogar Recht haben, doch dann waren die Begründungen in der Vergangenheit fadenscheinig. Schon seit vielen Jahren verhallen die Warnrufe ungehört: Was passiert bei einer wirklichen Krise, wenn ihr das Pulver längst verschossen haben? Dann passiert genau das, was Watzlawick schon vor 32 Jahren in seiner «Anleitung zum Unglücklichsein» prognostizierte. «Mehr desselben» ist eines der erfolgreichsten und wirkungsvollsten Katastrophenrezepte, das sich auf unserem Planeten im Laufe der Jahrmillionen herausgebildet hat. «Dieses Spiel beruht auf dem sturen Festhalten an Anpassungen und Lösungen, die irgendwann einmal durchausausreichend, erfolgreich, oder vielleicht sogar die einzig möglichen gewesen waren. Das Problem mit jeder derartigen Anpassung an gegebene Umstände ist nur, dass letztere sich mit der Zeit ändern.» Watzlawick, der Finanzstratege?
EZB: Christine Lagardes schweres Erbe
Im Oktober 2019 gab es warnende Stimmen, die darauf hinwiesen, dass Lagarde von ihrem Vorgänger Draghi eine völlig enthemmte Geldpolitik erbe (ZEIT). Hatte doch dieser 2011 als er zur Europäischen Zentralbank (EZB) kam, eine desolate Stimmung in Europa vorgefunden. Italien und Griechenland drohte die Insolvenz. Der Euro war gefährdet, doch Draghi versprach, die Einheitswährung zu behalten. Ein Jahr später verkündete Draghi, seine Bank werde «whatever it takes» unternehmen, um sein Versprechen einzuhalten. Diese Beruhigungspille genügte, die Zinsen, die die Krisenländer ums Mittelmeer zu bezahlen hatten, sanken augenblicklich.
Dieser Erfolg muss Draghi mit grossem Selbstvertrauen erfüllt haben. «In einer zunehmenden Anmassung wurden sie [Draghi und seine Gehilfen] von Rettern des Moments zu Konjunkturlenkern und sogar zu denen, die Demokratien bewahren wollten» (ZEIT). Wir erinnern uns: Aus der früheren Kardinalssünde der Geldpolitik - marode Staatsanleihen zu kaufen - war, über Nacht sozusagen, der disziplinierende Markt ausgehebelt worden. Von nun an wurde der Ausnahmezustand zur neuen Regel.
Leider hatte Draghi dann 2017 kein Ende dieser Regelumkehr veranlasst, obwohl es mit Europa wieder klar aufwärts ging. Europa gewöhnte sich, wen erstaunt’s, an das billige Geld. Draghi wurde das Opfer seines selbstbestärkenden Denkens. 2019 verabschiedete er sich und wurde viel für seine ultraexpansive Geldpolitik gelobt – von welchen Ländern können sich Leserinnen und Leser leicht vorstellen. Damit mutierte die EZB zur quasi Wirtschaftsregierung – die Notenbank wurde politisiert. Das hätte nie geschehen dürfen. Das Übertünchen der unfähigen politischen Regierungen mit Geldfluten ist vergebliche Liebesmüh. Das kann politische Führung nicht ersetzen, ja es stützt nationale Misswirtschaften.
Und jetzt?
Schon steht die nächste Krise an, es droht sich aus der Corona-Krise auch eine Finanzkrise zu entwickeln. Deshalb wird wieder mit der grossen Kelle angerichtet: Dies auch deshalb, weil sich das Volk und die Politiker und Politikerinnen in den USA, in Europa und der Schweiz längst daran gewöhnt haben, dass die Notenbanken alles im Griff und nur mit billigem Geld alles zu übertünchen hätten (NZZ).
Der kanadische Ökonom Bill White, der auch als Chefökonom bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel arbeitete, beklagt sich dieser Tage in der NZZ illusionslos: «Wer in einer Krise immer wieder zur geldpolitischen Droge greift, gerät in eine Sackgasse. Denn diese Strategie ist intertemporal inkonsistent. Ich sage das allerdings schon seit 20 Jahren.»
Im Sog des Corona-Virus ist festzustellen: Die EZB (und in deren Kielwasser die SNB) hat ihr Pulver verschossen, die zinspolitischen Einflussnahmen sind ausgereizt. Diesmal ist die Ursache des Geldbedarfs nicht selbstverschuldet und finanzielle Hilfe mittels Eurobonds ist gerechtfertigt. Umso mehr rächt sich das frühere mutlose Handeln dieser Institute. Damit haben sie drei wichtige Säulen unserer Zivilisation abgebrochen: Geldwert, Staatsbonität und Regelvertrauen. Nach uns die Sintflut – die nächsten Generationen sind nicht zu beneiden.