Im Alter von 93 Jahren schrieb 2010 Stéphane Hessel1 die Streitschrift „Empört euch!“ – seither bewegt sein leidenschaftlicher Aufruf zum friedlichen Widerstand gegen die Diktatur des Finanzkapitalismus, gegen die Umweltzerstörung und gegen die Unterdrückung von Minderheiten die nachdenklichen Menschen dieser Welt. «Neues schaffen heisst Widerstand leisten. Widerstand leisten heisst Neues schaffen.» Hessels Engagement ist Vorbild.
Seit die Schattenwelt der Banker2 unsere reale Welt in den Schatten stellt und die Finanzmanager auch fünf Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise in den USA mit unverschämtem Grössenwahn unverfroren weiter spekulieren als wäre nichts geschehen, ist die Reaktion der Bevölkerung erstaunlich lau. Hinter vorgehaltener Hand wird zwar reklamiert, doch damit hat sich’s. Von breitem Widerstand und persönlicher Empörung ist wenig zu spüren. Spitzenpolitiker kuschen. «Sogar unsere politischen Systeme erscheinen, zumindest in den USA und Teilen Europas, dekadent», meint der bekannte britische Historiker Niall Ferguson3 (TA 16. Juli 2011). Dabei verdunkeln neue Bankenwolken unsere Welt. Während wir in der Schweiz fröhlich in die Sommerferien fliegen, uns des Wohlstands und stetigen Wachstums der Wirtschaft erfreuen, braut sich europaweit die nächste grosse Finanzkrise zusammen. Helmut Schmidt lässt in der ZEIT (14. Juli 2011) seinem Unmut freien Lauf: «Dabei ist das Wort Investmentbanker nur ein Synonym für den Typus Finanzmanager, der uns alle, fast die ganze Welt, in die Scheisse geritten hat und jetzt schon wieder dabei ist, alles wieder genauso zu machen, wie er es bis zum Jahre 2007 gemacht hat.»
Blenden wir zurück. Die unsägliche Vorgeschichte dieser Tragödie lässt sich über mehr als 25 Jahre zurückverfolgen: Seither hat sich die Finanzwelt kontinuierlich von der realen Welt entfernt und ihre eigenen egoistischen Regeln, ein eigentliches Schattennetzwerk, aufgestellt. Mit der Folge, dass die Welt sukzessive aus den Fugen geraten ist. Heute müssen wir in der Schweiz konsterniert feststellen, dass sogar ein ehemaliger Bundesrat in dieser Umgebung seine klare Sicht verloren hat. Seit diese Finanz-Zocker der grossen Geschäftsbanken und nicht regulierter Hedge-Fonds mit Transaktionen und Spekulationen statt Arbeit das grosse Geld verdienen, seit sie mit auf Sand gebauten Konstrukten abkassieren, verschwindet die Sonne immer mehr hinter einer bedrohlichen Wolke, vergleichbar mit der Aschenwolke eines aktiven Vulkans.
Die Folgen sind verheerend:
- Schuldenwirtschaft in der Politik
- Immobilienboom und Schuldenblase in der Gesellschaft
- Megafusionen in der Wirtschaft
- „Kriminelle“ Bezüge einer Clique von Schmarotzern.
Warum sollen diese Banken für die staatliche Schuldenwirtschaft verantwortlich sein? Weil sie die Staatsschuldverschreibungen (Staatsbonds) kaufen, je höher der Zins, desto lieber finanzieren sie den Wahnsinn. Warum sind sie für die Immobilienblase verantwortlich? Indem sie selbst die Belehnung privater und öffentlicher Liegenschaften in ungeahnte Höhen getrieben haben nach der Devise, der Liegenschaftenwert stiege von Jahr zu Jahr. Warum sollen auch Megafusionen in der Wirtschaft ihre Wurzeln bei diesen Banken haben? Weil sie die horrenden Übernahmesummen vorschiessen und dabei Prämien in unverschämter Höhe einsacken.
Hinter diesen vordergründigen Ursachen verstecken sich weniger sichtbare. Mit der verantwortungslosen Kreditvergabe finanzierten diese Banken auch die kriminellen staatlichen Machenschaften (Korruption, Schuldenwirtschaft) und ermöglichten so erst das Desaster. Warum taten sie das? Weil sie Staatspleiten für unmöglich hielten und die „griechische Krankheit“ ignorierten – die Politik würde das schon richten (d.h. der Steuerzahler gutmütig berappen). Besonders pervers: Indem die Banken Credit-Default-Swaps kaufen, wetten sie gleichzeitig auf den Zusammenbruch der Schuldner (Marc Chesney)4. Weil Hypothekarschulden als „sicher“ angesehen wurden (bis zum Tag des Immobiliencrashs) und auch hier der Steuerzahler zur Kasse gebeten würde. Und, obwohl seit langem feststeht, dass sich über 2/3 der Grossfusionen in der Wirtschaft letztlich als Flops entpuppten und sich für die Bevölkerung negativ auswirken, winken saftige Prämien für Vermittler und Manager. Die Kosten für Entlassungen werden ja an den Staat ausgelagert, die entstehenden Quasi-Monopolbetriebe finanziert der Steuerzahler mit überhöhten Konsumentenpreisen. Und schliesslich zerstören zweistellige jährliche Millionenbezüge einzelner Supermanager (auch in der übrigen Wirtschaft, Daniel Vasella lässt grüssen) den Sozialfrieden und leiten Wasser auf die Mühlen der Gewerkschaften. Der angerichtete Flurschaden ist in allen zitierten Bereichen enorm.
Gräbt man nochmals eine Schicht tiefer bei der Ursachensuche dieser enormen Fehlentwicklungen, entdeckt man teils Überraschendes, teils nur Ärgerliches. Die staatliche Schuldenwirtschaft weltweit ist einerseits die Folge der unverantwortlichen Ausgabefröhlichkeit der Politiker, die sich damit auch ihre eigene Wiederwahl erkaufen. Sie ist aber auch eine direkte Auswirkung des Trends neoliberaler Systeme, die hohen Einkommen steuerlich zu entlasten, zu privilegieren oder gar die Steuerflucht zu begünstigen. Wir haben es also tatsächlich mit einer strukturellen Krise des liberaldemokratischen Kapitalismus zu tun. Auch da enden wir unweigerlich wieder bei jenen Banken (und deren politischen Lobbyisten), die Steuerhinterziehung noch im 21. Jahrhundert staatlich schützen möchten.
Hinter der Finanzierung der nächsten Immobilienblase (diese kommt bestimmt, auch in der Schweiz) stehen jene Kräfte, die für Wirtschaftswachstum per se als Garant des Seelenheils stehen und die allen Ernstes dafür plädieren, in der Schweiz müsste noch mehr gebaut werden. Und der persönliche Grössenwahn, der jene Manager antreibt, die das Ziel der Branchenführerschaft (gross, grösser, am grössten) ohne Rücksicht auf Verluste verfolgen, ist Ausdruck eines irrealen Weltbilds, das die Wirtschaft losgelöst von der Gesellschaft betrachtet statt als deren Dienstleister. Ins gleiche Kapitel gehören dann die unappetitlichen Vergütungen, die sie sich selbst (zulasten der Aktionäre und der Konsumenten) zuhalten.
Warum sollten wir uns empören? Weil allen diesen Players die Bodenhaftung verloren ging. In ihrer Eingenommenheit blenden sie die Folgen „unvorhersehbarer“ Ereignisse bewusst aus: Staatsbankrotte, Immobiliencrashs, Firmenpleiten, politische Krisen – dies alles lässt sie kalt, sie haben finanziell längst vorgesorgt. Soll die reale Welt ausser Kontrolle geraten – was kümmert sie das? Deshalb müssen wir Widerstand leisten, gegen ein perverses System und dessen Folgen. Wir müssen uns bewusst sein, dass diese Grossbanken in keiner Weise robust sind. Die Stresstests, die uns das weismachen sollten, sind wirklichkeitsfern. Die Schattenwelt ist eine dekadente Welt. Sie ist mitverantwortlich für die nächsten Schuldenkrisen. An der nächsten weltweiten Krise.
Deshalb müssen wir Widerstand leisten.
2 Gemeint ist der weltweit agierende Typ von Finanzmanager wie Investmentbanker und Fondmanager (ausdrücklich ausgenommen sind die vielen Bankenmitarbeiter oder Vermögensverwalter, die ohne Grössenwahn ihrem angestammten Geschäft nachgehen).
3 Niall Ferguson, geb. 1964 in Glasgow, ist Professor an der amerikanischen Harvard-Universität.
4 Marc Chesney, Prof. und Vizedirektor des Instituts für Banking und Finance, Uni Zürich.