Zum Auftakt der Thematik „Helvetisches Malaise“ sei der Einwand akzeptiert, dass in unserem Land durchaus die Meinung vertreten werden darf, es gäbe brennendere Probleme - etwa die Frankenstärke - zu analysieren. Die Antworten darauf: die weltweite Devisenspekulation in den Schweizerfranken ist kein hausgemachtes Problem. Aber ja, vergleichsweise bescheiden muten tatsächlich unsere Sorgen an im Kontext der weltpolitischen Verwerfungen. Diese werden uns aber so oder so tangieren, werfen wir also Ballast ab, solang wir dazu in der Lage sind. Je rascher wir unser Schweizerhaus modernisieren, desto eher sind wir gerüstet für den Unbill weltwirtschaftlicher Konjunkturschwankungen.
Rund 50 Jahre nachdem Prof. Max Imboden, Staats- und Verwaltungsrechtler von grossem Format, den Begriff „Helvetisches Malaise“1 geprägt hat, scheint es, als stünden wir in einer vergleichbaren Phase der allgemeinen Verunsicherung. Imboden war gleichzeitig Wissenschaftler und Politiker, er wusste also, wovon er sprach. Er gab in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts den entscheidenden Anstoss zur Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung.
2011 empfinden weite Kreise unserer Bevölkerung das diffuse Gefühl, die Entwicklung im Land gerate schleichend ausser Kontrolle. „Etwas stimmt nicht mehr!“ Diese lakonische Feststellung ist die etwas ratlose Reaktion auf schnelle, sicht- und spürbare Veränderungen im gesellschaftlichen Naherholungsgebiet: Wir fühlen uns bedrängt. Zu viele Neubauten, Einwanderer, Staus. Zu wenig politischer Reform- und Gestaltungswille, fehlende Fokussierung auf die Zukunft, dafür eine Renaissance der Vergangenheitsverklärung. „Zubetonierung der Schweiz – Überfüllte Züge – Verstopfte Strassen“, titeln die Medien. Blockierte Politik auf Kantons- und Bundesebene - zögerliche Reaktionen statt gestaltende, kreative „Würfe“ im Bundeshaus - die AUNS als Heilsbringerin, realisieren Bürgerinnen und Bürger.
Schon diese kurze Aufzählung macht klar, dass da so schnell keine „Heilung der schleichenden Krise“ aus dem Ärmel zu schütteln sein wird. Umso weniger, als vielerorts das Wort Krise fast ausschliesslich mit Geld und Verdienst gleichgesetzt wird. Und der Schweiz geht es ja so gut, versichern professionelle Lobbyisten wie jene von economiesuisse. „Unser Wachstum ist höher als in der EU, was wollt ihr mehr!“ Tatsächlich, wir möchten mehr. Und: erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt.
Wer unaufgeregt auf die Suche nach Gründen und Lösungen geht, realisiert, dass mindestens vier2 ineinander greifende Problemkreise auszumachen sind. Diese überschneiden, beeinflussen und akzentuieren sich gegenseitig. Es ist prioritär, sie vorab klar zu erkennen und zu definieren:- das schweizerische föderalistische Staatssystem
- der Wachstumsfetisch in Wirtschaft und Politik
- die Zersiedelung der Landschaft
- die Zuwanderung.
Die vielen, medial verbreiteten Vorschläge für Einzellösungen kranken in der Regel daran, dass sie nicht auf einer ganzheitlichen Problemanalyse basieren. Sie werden nicht zu Ende gedacht. Denn es sind gerade die versteckten Zusammenhänge der vier Bereiche, die solche isolierten Vorschläge ins Leere laufen lassen.
Unser Land befindet sich im Zustand der Erschöpfung, mit anderen Worten: das, was als Kraft unsere helvetischen Strukturen anfänglich konstituierte, hat sich inzwischen – zumindest teilweise – verbraucht. Die irritierende Ausweglosigkeit ruft nach einem Mutsprung. Dieser beginnt damit, dass wir bei allem Ungemach nicht den anderen (oder der Welt oder den Umständen oder dem Zufall) die Schuld zuweisen, sondern den Grund bei uns selbst suchen.Ich werde deshalb in loser Folge drei weitere durchschaut!-Kolumnen dem Thema „Helvetisches Malaise“ widmen und so versuchen, Vordergründiges zu durchschauen, Verbindendes zu entdecken, Überraschendes zu entwickeln. Zu komplex erscheinen mir die sich gegenseitig beeinflussenden Parameter, zu zufällig die sich daraus entwickelnden Trends. Aus der Physik erlaube ich mir, den Begriff instabil zu entlehnen: „leicht könnte ein unvorhergesehener, kleiner Stubs“ (Laughlin)3 das Endresultat in Richtung vieler unterschiedlicher Konsequenzen variieren. Ziel solcher Anstrengung wäre in einem gewissen Sinne, Transparenz zwischen Abhängigkeiten herzustellen um die verborgenen Vernetzungen zu verstehen. Dies hiesse wohl gleichzeitig, Abschied zu nehmen von einer Zeit, in der die Ideologie von der menschlichen Herrschaft über alle Dinge der Welt den Takt angab. Die uns überrollenden, unerwarteten Ereignisse beschleunigen diesen Vorgang – diese Einsicht fegt die Überheblichkeit weg.
1 «Das Wort Malaise drückt eine immer weiter um sich greifende schweizerische Grundstimmung aus. Es bezeichnet eine seltsame Mittellage zwischen ungebrochener Zuversicht und nagendem Zweifel. (…) Derartige Übergänge zwischen Bejahung und Verneinung sind bedrohlich. Sie verzehren die Kräfte des Einzelnen und sie lähmen die Tatkraft der Gemeinschaft. In der Ferne zeigt sich die Möglichkeit einer plötzlichen und ungestümen explosiven Entladung: Ausbrüche im Kleinen sind längst zur Tagesordnung geworden. Die Symptome dieser Entwicklung zu sehen und ihre Gründe zu erkennen, bleibt die erste Aufgabe, die uns die schweizerische Gegenwart stellt. Ihr folgt die Verpflichtung, Möglichkeiten zu suchen, die eine Heilung der schleichenden Krise versprechen.» (Max Imboden: „Helvetisches Malaise“, 1964, zitiert aus: Christoph Zollinger: „2032 – Rückblick auf die Zukunft der Schweiz“).2 Tatsächlich sind es weit mehr, doch wir wollen uns fokussieren.
3 Robert B. Laughlin, Nobelpreisträger: Abschied von der Weltformel, die Neuerfindung der Physik.