Die Kartellvorwürfe gegen VW, Daimler, BMW, Porsche und Audi sind happig. Die Autoindustrie, das Aushängeschild der deutschen Wirtschaft steht - noch sind die Trümmerreste des Abgasskandals nicht weggeräumt – erneut im Fokus betrügerischen Verhaltens. Wenn die freie Marktwirtschaft auf den Ideen des Liberalismus basiert, dann droht beiden gewaltiger Schaden.
Das Bundesdieselamt der Kanzlerin
Wer meinte, der Skandal um manipulierte Abgaswerte hätte ein Umdenken in den Top-Etagen der Automobilindustrie bewirkt, meinte falsch. Der „Umweltgipfel“ von anfangs August 2017 (Regierung und Branchen-Chefs) brachte keine Anzeichen eines Richtungswechsels, was DIE ZEIT darauf zurückführte, dass „das Kanzleramt den Konzernen half, die Grenzwerte anzupassen“. Die teuren Massnahmen, die nötig gewesen wären zur Sanierung der Diesel-Dreckschleudern, konnten mit gütiger Mithilfe eben dieses arroganten Amtes vermieden werden. Die ketzerische Frage dazu: Gibt es eigentlich ein Recht auf Umweltverschmutzung?
Dies ist die Fortschreibung des Skandalromans „Autokanzlerin“. Denn schliesslich haben Politiker den Autoherstellern und ihrem Diesel seit Jahren strenge Abgaswerte der EU vom Leib gehalten und sie mit Subventionen unterstützt.
Die Quittung folgt scheibchenweise. Einzelne Nationen haben bereits Fahrverbote für Dieselfahrzeuge ins Auge gefasst. Hatten doch die Hersteller genau das immer vermeiden wollen. Doch darauf reagiert z.B. VW ganz im Refrain der alten „Dieselhymne“: Kauft euch doch einfach ein neues Auto bei uns! Vor dem Hintergrund möglicher Kosten von 20 Milliarden Euro für die Umrüstung der Dieselflotte, eine typische „geniale“ Idee des Konzerns. Oder, wie andere Beobachter meinen: Eine weitere Geste der Arroganz“.
Frei, Freiheit, Frustration
Wir erleben tatsächlich turbulente Zeiten. Alte Gewissheiten werden davongespült, politische und wirtschaftliche Regeln entsorgt; freie Interpretation von Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Verlässlichkeit, aber auch der Demokratie, ist angesagt.
„Präsidiale“ Twitter-Blogs aus dem Weissen Haus, „unabhängige“ Gerichtsurteile koordiniert im Präsidentschaftspalast Cumhurbaşkanlığı Külliyesi oder Ak Saray, zu Deutsch: Weisser Palast, „demokratische“ Botschaften aus dem Amtssitz im Weissen Kreml beim roten Platz. Soviel Weiss legt den Gedanken an eine weisse Weste nahe, oder: „weiss ist die Unschuld“. Alles eine Interpretationsfrage.
Sprichwörtliche Zuverlässigkeit der Aushängeschilder deutscher Automarken, Ehrlichkeit beim Deklarieren der Stickoxide der Abgase, Verlässlichkeit in Kommunikation und Werbung. Die eigenartige Interpretation der marktwirtschaftlichen Regeln durch die Chefs der deutschen Autobauer: einstige Gewissheiten und Markenzeichen, auch hier frei interpretiert?
Eigentlich unterschieden wir einst zwischen freier Marktwirtschaft und staatlicher Planwirtschaft, zumindest wurde dieser Gegensatz seit dem 19. Jahrhundert (John Stuart Mill) betont. Das Eine auf dem freien Spiel der Kräfte des Marktes basierend, auf dem freien Wettbewerb, zum Gewinn jedes Einzelnen. Das Andere als von einer staatlichen Instanz aus gesteuert. Und jetzt das: da steuern freie Wirtschaftsbosse die Marktkräfte und den Wettbewerb im Sinne des Gewinns der eigenen involvierten Zentralen.
Ob so viel „Frei und Freiheit“ könnte einem Sturm werden, zumindest aber muss die Gesellschaft (Kunden, Konsumenten) zur Kenntnis nehmen, dass unter dem Deckel der überlegenen liberalen Wirtschaftsordnung in der globalisierten Welt Machenschaften an der Tagesordnung sind, die Beobachter in höchster Frustration zurücklassen könnten.
Kartelle – geduldet oder verboten?
In der Schweiz gilt seit 1995: „Das Bundesgesetz über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz, KG) bezweckt, volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Auswirkungen von Kartellen und anderen Wettbewerbsbeschränkungen zu verhindern und damit den Wettbewerb im Interesse einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung zu fördern. Die Sicherstellung des wirksamen Wettbewerbs in der Schweiz basiert dabei auf drei Säulen: Erstens untersagt das Kartellgesetz Abreden zwischen Unternehmen, die den Wettbewerb erheblich beschränken und nicht durch volkswirtschaftliche Effizienzgründe gerechtfertigt sind. Zweitens ist der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung durch ein oder mehrere Unternehmen verboten. Drittens sieht das Kartellgesetz vor, dass bei Fusionen, an denen grosse Unternehmen beteiligt sind, durch die Wettbewerbskommission (WEKO) zu untersuchen ist, ob durch die Fusion eine marktbeherrschende Stellung begründet oder verstärkt wird, durch die wirksamer Wettbewerb beseitigt werden kann (Seco).“
Das war nicht immer so. Tatsächlich war die Schweiz früher eines der kartellfreundlichsten Länder Europas. Unvergessen das Bierkartell des Schweizerischen Bierbrauervereins, dem mit spektakulären Aktionen des Karl Schweri (Denner) 1969 der Kampf angesagt wurde und das dadurch letztlich pulverisiert wurde.
Man kann daraus schliessen, dass ein Meinungsumschwung in der Bevölkerung der Politik die neuen Regeln diktiert hatte: Absprachen sind nicht mehr zeitgemäss, umso weniger, als die neuen Regeln der Transparenz geheime Abkommen früher oder später offenlegen. Datentransfers im Internet bringen auf breiter Ebene Scheinwerferlicht ins Dunkel, wo früher geheime Vereinbarungen zulasten des Endverbrauchers oder des Staates („Bankgeheimnis“) ganz eigene Regeln und Sanktionsmassnahmen absicherten.
Wenn die Europäische Kommission im Juli 2017 bestätigt hat, dass sie Informationen über ein mutmassliches Kartell deutscher Autobauer prüft, so kann davon ausgegangen werden, dass hier jahrelang Absprachen getätigt wurden, von denen zumindest einzelne gegen das EU-Kartellrecht verstiessen.
Bedrohte Freiheiten
Antiliberale Kräfte bedrohten den westlichen Liberalismus, diagnostizierte kürzlich Timothy Garton Ash, der bekannte britische Historiker („Schweizer Monat“). Er macht dafür auf der politischen Ebene auch die „terribles simplificateurs“ verantwortlich, jene wortgewaltigen populistischen Heilsverkünder. (Auch die EU sieht er übrigens nicht ohne schädliche Demokratiedefizite).
Diese Thesen in Ehren, doch sie ignorieren wohl die hausgemachten Bedrohungen, wie sie aus dem inneren Circle der Wirtschaftseliten je länger, je offensichtlicher zu Tage treten. Damit betreten wir die wirtschaftliche Ebene des Phänomens, die sich dann aber nicht als „antiliberale Konterrevolution, als bewusste Reaktion auf den Vorwärtsmarsch der Freiheit und des Liberalismus“ in der globalisierten Welt erklären lässt.
Was uns innerhalb eines Jahres an Skandal-Nachrichten aus der deutschen Schlüsselindustrie erreicht, ist unerträglich. Dass inzwischen eine weltweite Fahndung nach VW-Managern angelaufen ist, die verwickelt sein sollen in die Abgasaffäre, ist nachvollziehbar. Dass es bei jenem umweltschädlichen Verhalten nicht ohne Absprachen unter den grossen Herstellern ging, einleuchtend. Dass jetzt noch ein umfassender Kartellverdacht dazu kommt, eine krasse Verletzung der offiziell hochgelobten marktwirtschaftlichen Regeln, ist schon ein starkes Stück.
Ist es die logische Fortentwicklung der längst praktizierten, aber unentdeckt gebliebenen, ökonomischen Optimierung der Ideen des Adam Smith? Dessen Einbettung des wirtschaftlichen Eigennutzes als Erfolgsgarant? Die „spontane Ordnung“ und die „unsichtbare Hand“ des Marktes, welche die Interessen des Individuums und der Gesellschaft in Einklang bringen? Im Falle von strafbaren Handlungen treten sowohl „unsichtbare Hand“, als auch „spontane Ordnung“ ins grelle Scheinwerferlicht eben jener staatlichen Behörden, die doch möglichst abwesend sein sollten für eine gedeihliche Entwicklung der Wirtschaft ohne Staatszwangsjacke.
Totengräber des ursprünglichen Erfolgsmodells
Was immer die konzerneigenen Kommunikationsstrategen uns jetzt weis machen wollen, es bliebt der Kollateralschaden an einem Wirtschaftssystem, das auf freiheitlichen Ideen basiert. Geschädigt werden die Mehrzahl ehrlicher und gradliniger Chefs anderer Branchen, die Tausenden von Patrons der KMUs. Waren schon die exzessiven Gehaltsbezüge in den Top-Etagen der Konzerne Auslöser von Ärgernis, Wut und Kopfschütteln, so lassen die neuesten Kapriolen immer deutlicher werden, dass es eine globale Clique von Machtmenschen gar nicht interessiert, was Gesellschaft und Politik von ihnen hält. Sie bewegen sich in ihrer selbst inszenierten Schattenwelt, als ginge es dabei um ein Monopoly-Spiel.
Sollte sich bewahrheiten, dass tatsächlich langjährige illegale Absprachen zwischen den grossen deutschen Autobauern stattfanden, drohen diesen Konzernen ein weiteres Mal Milliardenstrafen (das kennen wir aus der Bankenwelt). Und einmal mehr sähen sich jene Kritiker bestätigt, die schon seit langem in der Marktwirtschaft eine Lizenz zu unlauterer Selbstbereicherung sehen (NZZ).
Diese Überlegungen führen zum Schluss, dass die Bedrohungen unserer liberalen Freiheiten und folgerichtig unserer demokratischen Errungenschaften, nicht nur von Aussen, sondern ebenso wirkungsvoll von Innnen kommen. Es mag das Tempo der Globalisierung viele Menschen verunsichern. Ebenso abträglich für unser demokratisches Gesellschaftssystem, das unseren Wohlstand erst ermöglicht, sind jedoch die missbräuchlichen Auslegungen dieses hart erkämpften Gedankenguts durch skrupellose Wirtschafskapitäne.
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