Seit vielen Jahren schreibe ich über das Gentechmoratorium, das im Parlament periodisch immer wieder verlängert wurde. Mit seitenlangen Begründungen wurde dem Schweizervolk eingetrichtert, warum gentech-frei hierzulande alternativlos sei. Alle Gentech-Experimente wurden abgeblockt – die gesetzlichen Auflagen verhinderten sie.
Der Vorstand des Bauernverbandes erwacht
Besser spät als nie. Denn bisher hatte der Bauernverband (SBV) stur (eines seiner Markenzeichen) verlangt, das Moratorium immer wieder weiter zu verlängern. Anfang 2022 kam das grosse Erwachen. Nachdem der Bauernverband grünes Licht gegeben hatte, ergriffen Politikerinnen und Politiker unseres Parlaments die Initiative und beauftragten den Bundesrat, den Anbau moderner Gentechpflanzen zu erlauben. Dazu müssten bestimmte genveränderte Pflanzen aus dem blockierenden Gesetz entlassen werden. Endlich. Der kommerzielle Anbau gentechnisch veränderter Organismen war bisher streng verboten.
Jetzt nimmt man in Bern zur Kenntnis, dass die Gentechnik inzwischen grosse Fortschritte erzielt hat. So ist es heute möglich, DNA-Bausteine gezielt im Erbgut einzufügen respektive auszuschalten. Längst ist die einstige Gentechnik weiterentwickelt – und endlich hört man in den massgeblichen politischen und landwirtschaftlichen Kreisen auf die Wissenschaft.
Die Rolle der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT)
Im Februar 2021 hatte sich die SCNAT in einer Vernehmlassung an die Räte und den Bundesrat gewandt und seine Einschätzung zur damals geplanten vierjährigen Verlängerung des Moratoriums kundgetan. Noch vor einem Jahr sagte der Bundesrat, er halte es für verfrüht, Vorschläge für Ausführungsbestimmungen im Hinblick auf die neuen gentechnischen Verfahren auszuarbeiten. «Auch lehnt er es zurzeit ab, gesetzliche Erleichterungen für gewisse neue gentechnische Verfahren zu schaffen», schrieb die SCNAT damals in der Stellungnahme (SCNAT netzwerk).
Im Gegensatz zum Bundesrat sehen die Akademien die Anpassung der geltenden Regulierung im Hinblick auf die neuen gentechnischen Verfahren aber als notwendig an. Die Akademien «bedauern, dass der nun abgeschlossene zweijährige interne Prüfprozess nicht dazu genutzt wurde, um konkrete Lösungsoptionen zu erarbeiten», schreiben sie. Aus Sicht der Akademien der Wissenschaften Schweiz ist die geltende Gentechgesetzgebung nicht mehr zeitgemäss. Hauptziel der Diskussion sollte es sein, «die Chancen der neuen gentechnischen Verfahren verantwortungsvoll und inklusiv für die Schweizer Pflanzenzüchtung und Landwirtschaft nutzbar zu machen».
Die Allianz «Sorten für morgen» (sortenfuermorgen.ch)
Ende 2021 nahm der Druck aufs Parlament, seine ablehnende Haltung im Gentech-Problem aufzugeben, weiter zu. Der Verein «Sorten für morgen» mit seinem Präsidenten Jürg Niklaus forderte eine differenzierte und offene Auseinandersetzung mit neuen Methoden der Pflanzenzüchtung – damit die Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft ihren hohen Ansprüchen bezüglich Umweltverträglichkeit auch morgen nachkommen könne.
Dieser Verein ist politisch unabhängig und zählt zu seinen Mitgliedern Grossverteiler wie Migros und Coop. Er setzt sich für eine starke Pflanzenzüchtung und Offenheit gegenüber neuen Züchtungsverfahren im molekularbiologischen Bereich ein. «Ziel ist es, dass unsere Land- und Ernährungswirtschaft nebst den klassischen Züchtungsmethoden auch auf moderne Methoden zurückgreifen kann.»
Der Verein plädiert für das sogenannte Genomie-Editing. «Diese Technik erlaubt es, in einem Organismus gezielt Gene auszuschalten, abzustellen oder einzufügen und so seine Eigenschaften zu verändern» (NZZ am Sonntag). Als Beispiele gelten etwa Kartoffeln, die resistenter sind gegen Knollenfäule, oder Salate, die mehr Vitamin C aufweisen und so weniger schnell braun werden.
Es darf vermutet werden, dass unter anderem die Aktivitäten dieses Vereins dazu beigetragen haben, das Parlament mehrheitlich umzustimmen.
Blick über die Grenze
Auch die EU-Kommission beschäftigt sich mit den gleichen Fragen wie unser Parlament. Es ist ja längst bekannt, dass die Landwirtschaft in der EU mit Milliarden Euro jährlich subventioniert und demzufolge als wandlungsresistent betrachtet wird. In diesem Zusammenhang erklärte kürzlich die bekannte Biologin und Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard in der «FAZ», weltweit wären bereits mehr als hundert marktfähige genomeditierte Pflanzen bekannt. «Als Beispiel nannte sie Weizen mit weniger Gluten, pilzresistente Weinsorten oder trockenheitstolerante Sorten von Mais, Soja oder Weizen» (Neue Zürcher Zeitung). Szenenkenner vermuten, dass die Schweiz dereinst die gleichen Regeln in Kraft setzen werde wie die EU.
Einfluss der Klimaerwärmung
Vor unseren Augen spielt sich das Phänomen des Klimawandels ab. Wir beobachten wochenlange Regenzeiten, die unsere Bauern verzweifeln lassen. Dann werden wir Zeugen langer Trockenperioden (wie im Tessin zwischen November 2021 und März 2022), die sich in der Landwirtschaft gleichermassen negativ auswirken.
Es ist deshalb auch aus diesem Blickwinkel ein «must»: Wir müssen reagieren, um Gemüsebauern, Weinproduzenten – der Landwirtschaft ganz allgemein –, neue Hoffnung und berechtigte Chancen zu geben. Ernteausfälle traditionsgemäss mit erhöhten Subventionen im Nachhinein auszugleichen, ist kein nachhaltiges System.
Das Berner Schneckentempo
Man darf verhalten optimistisch sein, welche Vorschläge unser Bundesrat vorlegen wird. Er hat zwei Jahre Zeit zum Überlegen, Abwägen, Konsultieren und um Umfragen zu starten. Dieses Schneckentempo entspricht unserer Erfahrung in diversen Problemsektoren. Allerdings könnte man sich ein Beispiel an anderen Ländern nehmen, rät die «Neue Zürcher Zeitung»: «In den USA, Kanada, Brasilien, Argentinien unterliegen Genom-editierte Pflanzen bereits nicht mehr den GVO-Vorschriften. Grossbritannien und China wollen nachziehen.»
Zum Vorteil der Landwirtschaft sollten wir endlich den Schritt wagen, unseren Saatgutfirmen zu ermöglichen, zeitgemässe neue Lösungen zu erarbeiten. Und unsere Bauern sind dringend auf klimaadaptierte, ökologisch verträgliche und ökonomisch überzeugende Pflanzen angewiesen. Wer zu spät kommt …