Die Zersiedelung der Landschaft ist das Resultat unserer zahnlosen Raumplanung, die Zuwanderung verstärkt das Bevölkerungswachstum. Beides schaukelt sich gegenseitig hoch: Wir verbauen unsere Landreserven, auch, um dem Zuwanderungsdruck zu begegnen. Die jährliche Zuwanderung der letzten Jahre konsumiert ungefähr das Volumen der im gleichen Zeitraum produzierten Wohnungen. Dies wiederum führt zur Nachfrage nach mehr staatlichen Leistungen wie Krankenpflege, Spitalbauten, Bildungsangeboten, Verkehrsinvestitionen. Um diese Leistungen zu erbringen, brauchen wir – mehr Zuwanderung. Ein Teufelskreis.
Da löffeln wir die Suppe aus, die wir uns selber eingebrockt haben. Unser föderalistisches Staatssystem ist den dringendsten Aufgaben nicht mehr gewachsen (durchschaut! Nr. 47). Der Wachstumsfetisch in Wirtschaft und Politik und der plakative Ruf nach mehr (Steuer-) Wettbewerb – beides viel zu kurzsichtig und isoliert betrachtete Stimuli – zeigen lange verdrängte Nebenwirkungen (durchschaut! Nr. 48). Das helvetische Malaise ist hausgemacht (durchschaut! Nr. 46).
Der schweizerische Landschaftsschutz ist völlig ungenügend. Dies ist vordergründig unbestritten und längst wissen das viele von uns. Nur ganz Naive glauben aber an freiwillige Massnahmen, wie z.B. ein neues Raumkonzept, das Kantone und Gemeinden anleiten würde, weniger Bauland zu verschwenden. So erstaunt es auch nicht, dass der Ständerat 2010 die Landschaftsinitiative abgelehnt hat. Unsere Raumplanung ist ein harmloser Papiertiger. Bereits die lapidare Feststellung, sie kollidiere mit der Autonomie von Kantonen und Gemeinden genügt, um sie abzuwürgen – im Ständerat, in landwirtschaftlichen Kreisen, beim Hauseigentümerverband. Immerhin hat 2010 der Bundesrat konstatiert, unsere Raumplanung sei ein „zahnloses Instrument“ und zu den Richtplänen der Kantone meinte er „die Kantone sind völlig frei, was sie da rein tun wollen und was nicht.“1
Genauer gesagt, ist es aber nicht die Raumplanung, sondern sind es die Behörden, die seit vielen Jahren versagen.2 Die völlig unkontrollierte und ungeordnete Bauwut wird von lokalen und kantonalen Beamten geduldet, um es mal leise zu sagen. „Die Siedlungsfläche in der Schweiz dehnt sich nach wie vor im Tempo von etwas einem Quadratmeter pro Sekunde aus, fast ausschliesslich auf Kosten des Kulturlandes“, moniert Hans Weiss in der NZZ.3 „Das Hauptübel ist die Gemeindeautonomie.4 Die lokalen Behörden, oft von Bauern und der Baulobby dirigiert, orientieren sich vorwiegend an Eigeninteressen“, stellt Beat Bühlmann im TA5 fest.
In dieses Kapitel gehört natürlich auch der grassierende Zweitwohnungsbau in Feriendestinationen. Deren Anteile liegen in Laax, Falera und Silvaplana bei 81, 79 und 77 Prozent, in Grindelwald bei 57 Prozent, in Saint-Luc und Grimentz im Wallis bei sagenhaften 83, resp. 82 Prozent.6 Besonders pikant: Obwohl im aktuellen Raumplanungsgesetz vorgeschrieben, werden praktisch überall die Planungsgewinne grosszügig den Privaten überlassen statt abgeschöpft. Selbst aveniraktuell konstatiert: „Während in manchen städtischen Gebieten in den letzten Jahren eine gewisse Verdichtung eingesetzt hat, geht man auf dem Land mit der Ressource Boden immer noch sehr verschwenderisch um.“ 7 Dies führt dann, als Beispiel, dazu, dass Landwirte, die während Jahrzehnten Hunderttausende Franken an Subventionen eingestrichen haben, am Schluss Millionengewinne beim Landverkauf machen. Diese Planungsgewinne belaufen sich nach Schätzungen auf gegen zwei Milliarden Franken jährlich.8 Soviel zum schweizerischen Föderalismus des 21. Jahrhunderts.
Über Nutzen oder Schaden der Zuwanderung wird gestritten, das Thema für Propagandazwecke missbraucht. Ehrlicherweise - und ohne Dosis Herablassung, wie in Wirtschaftskreisen leider oft zu beobachten - gilt es doch anzuerkennen, dass die ungebremste Zuwanderung, angekurbelt durch die Personenfreizügigkeit des europäischen Binnenmarktes, nicht so weiter gehen kann. Natürlich sind die wirtschaftlichen Vorteile der Migration vielfältig. Und auch beachtlich sind unsere attraktiven Standortbedingungen für Ausländer. Doch ebenso unbestritten ist die Tatsache, dass mit Steuerdeals für die Wirtschaft und Pauschalsteuern für Private ein aggressiver Lockvogel eingesetzt wird, der gleichzeitig die befreundeten Länder, aus denen viele diese Zuwanderer stammen, finanziell schwächen. Darüber schweigt avenir suisse in seinem Folder aus dem Jahr 2010.9 Kein Wort z.B. über steigende Mieten in einzelnen Ballungsräumen als Folge dieser Entwicklung, die Verdrängung der einheimischen Bevölkerung aus dem zu teuren Wohnraum.
Es genügt auch nicht, wenn der Direktor des Bundesamtes für Wohnungswesen konstatiert: „Es fehlen uns bis zu 10'000 Wohnungen pro Jahr“10 (neben den 30'000, die jetzt schon jährlich gebaut werden), und demzufolge die Mittel zur Wohnbauförderung überprüft würden. Die Frage ist doch: wollen wir denn in den nächsten zehn Jahren überhaupt eine Halbe Million zusätzlicher Wohnungen?
Natürlich ist auch die SVP an vorderster Front mit dabei, wenn es gilt, aus einer angespannten, tatsächlich ungemütlichen Situation Profit zu schlagen. Mit ihrer Volksinitiative „Masseneinwanderung stoppen!“ will sie gegen diese Entwicklung ankämpfen. Nur: ein Grossteil der unqualifizierten Einwanderer wird von der Landwirtschaft und dem Gewerbe eingestellt. Dies ist genau das Stammpublikum der SVP. Und auch ein Drittel des Familiennachzugs geht in diese Ecke. Politische Propaganda und politische Lösungsfindung sind eben zwei verschiedene Paar Schuhe.
Das in vier Beiträgen diagnostizierte „Helvetische Malaise“ (durchschaut! Nr. 46-49) lässt sich weder mit wirtschaftlichen, noch mit politischen Propagandarufen kurieren. Im Gegenteil. Wer auf einem Auge blind ist, plädiert höchstenfalls Lösungsansätze fürs eigene Publikum. Dessen Anteile sind in der Schweiz noch selten höher gewesen als 30 Prozent der Bevölkerung. Und die restlichen 70 Prozent? Wir sollten etwas nachdenklich werden. Weniger anfällig für Heilsversprechen oder einfache Lösungen. Beides führt uns an die Wand. Ob das bei den Wahlen dieses Wochenende sichtbar wird? Ich hoffe es.
1 TA vom 22. 1. 2010: „Bundesrat fordert Taten gegen Zersiedelung der Schweiz.“2 Tages-Anzeiger vom 17. 9. 2011: „Keine Last-Minute-Einzonungen.“
3 Hans Weiss, Dip. Kultur-Ingenieur ETH (NZZ vom 9. 9. 2008 „Freie Landschaft und zugebaute Schweiz“).
4 TA vom 29. 7. 2011: „Bauzonen verkleinern, Profit abschöpfen“.
5 TA vom 20. 7. 2011: „Die Betten sind kalt, die Geranien fehlen.“
6 Aveniraktuell, September 2010: „Nicht ganz dicht.“
7 Magnet Schweiz. Die Schweiz im internationalen Standortwettbewerb.
8 NZZ am Sonntag vom 28. 8. 2011: „Ein Milliarden-Geschenk für die Bauern.“
9 Aveniraktuell, September 2010: „Nicht ganz dicht.“
10 NZZ am Sonntag vom 10. 7. 2011: Ernst Hauri, Direktor des Bundesamtes für Wohnungswesen.