Mit immer tieferen Steuersätzen reiche Zuzüger anzulocken, dieses kantonale und kommunale Kampfritual, ist in letzter Zeit in der Beurteilung durch Fachleute, Politologen und viele politisch interessierte Menschen vom einstmals genialen Standortmarketing-Instrument zum unfairen, ja ruinösen Wettbewerbsvehikel degradiert worden. Steueroasen hier hinterlassen Steuerwüsten dort. Die gnadenlose Jagd nach Topverdienern (Personen wie Unternehmen) aus dem In- und Ausland mutiert zum nationalen und internationalen Ärgernis. Wie kommt es zu diesem Stimmungsumschwung? (Die bevorstehende Unternehmenssteuerreform III wird hier ausgeklammert und Gegenstand einer späteren Kolumne im Juli 2014 sein).
Ungesunder Steuertourismus
Zwar suggerieren Statistiken, dass 2011 nur 418 Top-Shots der 1000 grössten Firmen in unserem Land aus Steuergründen ihren Wohnort gewechselt haben sollen. Im Zeitraum von 10 Jahren wären auch das dann immerhin an die 5000. Doch wissen wir alle, dass nicht nur diese Auserwählten Ausschau nach Steueroasen halten. Dazu kommen Tausende von Gut- und Sehrgutverdienenden, in erster Linie aus dem Banken- und Finanzsektor. Sie mögen es zum Beispiel, in der Finanzmetropole Zürich zu arbeiten. Die Autokolonnen in den Morgen- und Abendstunden zwängen sich durch die Dörfer zwischen den Kantonen Schwyz/Zug und Zürich.
Steuerflucht dank Steuerwettbewerb
Noch preist das Liberale Zentrum für Steuerwettbewerb dieses System – was niemanden erstaunen wird. Ursprünglich, bevor die Idee da und dort pervertierte, wies der gesunde Wettbewerb tatsächlich mehr Vor- als Nachteile auf. Doch inzwischen zeigen verlässliche Untersuchungen wie diejenige des Instituts für Politikwissenschaft der Uni Zürich unmissverständlich: Nicht nur wird die Steuerflucht gefördert, auch die interkantonale Solidarität wird immer mehr gefährdet.
„Der Wettbewerb findet auf einem unebenen Spielfeld statt“, schreibt der Politologe Fabio Wasserfallen (magazin 2/13). Während Zentren wie Zürich, Basel oder Genf Kultureinrichtungen, Universitäten, öffentlichen Verkehr zur Verfügung stellen, bezahlen die nahegelegenen Agglomerationen und die umliegenden Kantone in der Regel wenig oder gar nichts an diese vielfältigen und teuren Zentrumsleistungen. „Sie können deshalb ihre Steuern tief halten und so Zuzüger anwerben. Das klassische Beispiel ist der Kanton Zug, der von den Zentren Zürich und Luzern profitiert und seit den 1970er-Jahren konsequent auf eine Niedrigsteuerstrategie setzt. Man spricht von Spillover-Effekten.“ (Originalstudie: Contextual Variation in Interdependent Policy Making: The Case of Tax Competition, Fabio Wasserfallen, Universität Zürich).
Den Bogen überspannt
Während Jahren ist in der Schweiz die Steuerbelastung tendenziell gesunken, nicht zuletzt ist das der ursprünglichen Idee des gesunden Wettbewerbs zu verdanken. Doch gerade in einigen Tiefsteuerkantonen stellt man jetzt mehr oder weniger perplex fest, dass die langfristige Rechnung nicht mehr aufgeht. So orakelt etwa der Finanzdirektor des Kantons Schwyz: „Jetzt kommen wir nicht darum herum, die Einnahmen zu erhöhen.“ Am 18. Mai 2014 stimmten denn auch Schwyzerinnen und Schwyzer zähneknirschend einer happigen Steuererhöhung zu – sie trifft vor allem Gutverdienende.
Peter Hegglin, Präsident der Finanzdirektorenkonferenz und Zuger Finanzdirektor räumt ein, dass in einigen Kantonen mit den Steuersenkungen wohl zu weit gegangen worden sei. In der Tat wies 2013 jeder zweite Kanton ein Defizit aus. Steuersenkungen lägen aus verschiedenen Gründen kaum mehr drin. Der Kanton Luzern, auch er am Tiefsteuerspiel beteiligt, musste für 2014 seine Steuern erstmals wieder erhöhen.
Verfassungswidrige Steuertarife
Eine neue Studie der Universität Basel weist nun zudem nach, dass es in gewissen Fällen (für Unverheiratete mit Einkommen von über einer Million Franken) zu degressiven Steuertarifen kommt, was die Verfassung ausdrücklich als unzulässig bezeichnet. Das Bundesgericht hat in einem Urteil schon vor einigen Jahren argumentiert, dass eine „Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit“ dies nicht zulasse. Somit verstossen diese Fälle klar gegen die vielgelobte Steuergerechtigkeit. In Übereinstimmung mit dem weiter oben beschriebenen Absatz „Steuertourismus“ lässt sich beobachten, dass es sich somit vor allem für Sehrgutverdienende ausbezahlt, die legale Steuerflucht zu ergreifen.
Pauschalbesteuerung für reiche Ausländer
Die „Besteuerung nach Aufwand“ – wie es so schön heisst – erlaubt es, bei der direkten Bundessteuer ein vereinfachtes Veranlagungsverfahren anzuwenden. Dies führt zu grotesken Ungereimtheiten. Im Vergleich zu Schweizerinnen und Schweizern zahlen die betroffenen Ausländer nur den Bruchteil an Steuern. Die Eidgenössische Steuerverwaltung hat das Murren und Kopfschütteln im Land wohl zur Kenntnis genommen. Ab 2013 „verschärfte“ es deshalb die Kriterien zur Aufwandbesteuerung. Das Siebenfache, statt das Fünffache der Wohnkosten wird jetzt als Basisaufwand festgelegt. Damit würde „das Instrument verbessert“, heisst es dort auf Anfrage. Aus welchem Blickwinkel? Das darf gefragt werden.
Auf kantonaler Ebene ist die Situation unterschiedlich. Auch hier haben einige Kantone die Bedingungen verschärft. In den Kantonen Zürich, Schaffhausen, Appenzell-Ausserrhoden, Basel-Stadt und Basel-Land wurde die Pauschalsteuer kurzerhand (an der Urne) abgeschafft. Aus dem Kanton Zürich ist bekannt, dass er dies nicht zu bereuen hatte. Inzwischen sind in den durch Wegzügen betroffenen Wohnstätten „normal“ Besteuerte eingezogen, was zu Mehreinnahmen führt.
Ausgerechnet im Kanton Schwyz riefen anfangs 2014 prominente bürgerliche Politiker dazu auf, die Pauschalsteuer abzuschaffen, da sie ein unfairer Teil des Steuerwettbewerbs darstelle. Die abgelieferten Beträge seien „nicht nur lächerlich, sondern in höchstem Masse ungerecht und unsozial“, konstatierten sie in der NZZ am Sonntag. Ihr Kanton werde als Folge der tiefen Steuern zubetoniert. Davon kann sich ein Bild machen, wer will. Die Fahrt an den oberen linken Zürichsee genügt.
Föderalistische Gratwanderung
Eine Volksinitiative will bekanntlich der Pauschalsteuer an den Kragen. Die bürgerliche Mehrheit beider Räte sagte 2014 Nein zur Abschaffung der Besteuerung von Ausländern nach Aufwand. Neben dem Standortwettbewerb wird der Föderalismus ins Feld geführt. Auch in der NZZ wird schon mal gewarnt: „Keine Experimente mit der Pauschalsteuer!“ Die Kantone dürften nicht bevormundet werden.
Gleichzeitig berichtet die NZZ am Sonntag verschiedentlich von den abenteuerlichen, kantonalen Methoden im Umgang mit Pauschalbesteuerten. Zum einen: Am Beispiel eines russischen Oligarchen im Kanton Nidwalden „stellten die Behörden keine Fragen, nahmen keine Kontrollen vor“, kurz, sie stellten offensichtlich grosszügig Persilscheine aus für Pauschalbesteuerte.
Zum andern lesen wir über den reichsten Polen, der in St. Moritz eine riesige Villa am Pistenrand erstellt. (Dort stammen scheinbar 30% der 40 Millionen Steuereinnahmen von Pauschalbesteuerten). Eine Einheimische wird zitiert, für die es schlicht unverständlich ist, dass man so etwas hier bauen darf. Sie entrüstet sich: „Unser Kapital ist die Natur, doch dem Geld zuliebe wird alles kaputtgemacht.“
Man muss kein sozialistisch verbrämter oder „Alternative-Liste-geprägter-Linker“ sein, um diese Art föderalistischer Spezialkonditionen abzulehnen. Auch anderswo stellt man sich die Frage, ob unser Land als Dienstleistungsgesellschaft für die Angehörigen der globalen Plutokratie ihrer eigenen Bevölkerung letztlich nicht mehr schadet als nützt.
Die Steuervermeidungstricks der globalen Konzerne
Internationale Konzerne profitieren davon, weniger Steuern abliefern zu müssen, indem sie zum Beispiel ihrer Holdings in Tiefsteuer- (oder Nullsteuer-) Länder verlegen. Noch ist dies legal, doch der Trend geht in die andere Richtung. Steueroptimierung als Einnahmequelle (vermiedene Ausgaben schlagen zu Buch wie Einnahmen) ist die Spezialität von Google, Apple, GE, Microsoft, IBM etc. Sie füllen damit ihre Kassen, um bei nächster Gelegenheit ihre unliebsamsten Konkurrenten aufzukaufen. Die Schweiz oder Irland gehören zu jenen Oasen, die solche Schlupflöcher aktiv bewirtschaften und deshalb von dieser Regelung profitieren. Je länger je mehr wird diese Politik von der Staatenwelt kritisiert. So bekämpft die OECD Steuerregime, die es Firmen erlauben, einen Teil ihrer Gewinne steuerfrei zu deklarieren. Auf der schwarzen Liste steht – wen wundert’s – auch die Schweiz.
Der Rohstoffkonzern Glencore mit Sitz in Baar (ZG) bezahlte – wie schon in den Vorjahren – auch für 2012 in der Schweiz keine Gewinnsteuern. Dies bei einem geschätzten Jahresumsatz von rund 236 Milliarden Dollar. Die HANDELSZEITUNG schreibt dazu: „Mit der jüngsten Nullnummer setzt sich die Reihe von steuerfreien Jahren fort. […] Die Empörung in der Öffentlichkeit war angesichts des operativen Jahresgewinnes von 4,5 Milliarden Dollar gross. Das Unverständnis auch.“
Die Steuerbefreiungspraxis von Bund und Kantonen - das sogenannte System, das die Wirtschaft in strukturschwachen Regionen ankurbeln soll – ist inzwischen massiv aus dem Gleichgewicht geraten. Das Forschungsinstitut BSS hat nachgewiesen, dass allein dem Bund in den Jahren 2007 – 2009 4,36 Milliarden Steuereinnahmen entgingen. Da jedoch nur die drei Top-Firmen von 371 betroffenen Unternehmen allein 3,15 Milliarden sparten, kann von einem grotesken Ungleichgewicht gesprochen werden. Mit Verweis auf das Steuergeheimnis legt das Seco natürlich keine Namen frei. Immerhin wissen wir, dass der Kanton Waadt nicht zum ersten Mal ins Zwielicht gerät. Dessen aggressive Ansiedlungsstrategie führte dazu, dass 75 Prozent aller schweizerischer reduziert versteuerten Unternehmensgewinne dort anfielen (TA, 29.11.2013).
Made in Switzerland
Ob es zutrifft, was die ZEIT kürzlich schrieb: „Niedrige Steuern sind die einzige Sprache, die Konzerne verstehen“? Sie kennen wohl doch auch einige andere, zum Beispiel die Sprache der geölten Kommunikation. Doch werden wir in unserem Land aus der Nähe beobachten können, was passieren wird, wenn sich dereinst auslaufende Steuerrabatte auswirken dürften. Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis Multis unser Land deswegen verlassen werden.
Zweifellos wird die innerschweizerische Solidarität in letzter Zeit immer stärker strapaziert durch Ungleichheiten, die „in Ausnahmefällen“ toleriert werden. Viele Menschen in unserem Land mit seiner weltweit beachtenswert hohen Steuermoral, schütteln den Kopf und beginnen, aufzuwachen. Die ewig gleiche Panikmache mit drohenden Steuerausfällen vergilbt mehr und mehr. Steuerhinterziehung und Steuervermeidung – made in Switzerland – ist kein trendiges Exportprodukt mehr.
(Zu diesem Thema siehe auch meine Kolumne vom 9.12.2012 > Steuergeschenke)