Der Ausgang der National- und Ständeratswahlen vom 23. Oktober 2011 überraschte die professionellen Prognostiker, Politologen und Journalisten einmal mehr. Zwar hatte über einen weiteren Einbruch der FDP hohe Einigkeit bestanden, doch die happigen Sitzverluste der beiden Polparteien Grüne und SVP erwischten die Auguren auf dem falschen Fuss. «Aus Liebe zur Schweiz», im Jahr 2011 mediale Motivationsspritze bei SVP, FDP, SP, zahlte sich nicht aus, wenigstens nicht im Sinne der Erfinder. Der Globalisierungsdruck, der in unserem Land eine gewisse Verunsicherung, einen propagandistisch angeheizten Trend zur «Glokalisierung» auslöst, ist zwar unbestritten. Doch Wählerinnen und Wähler entschieden sich weit weniger für rückwärts gewandte, mythische Verklärung (Kuhglocken, Sennenkäppli mit Schweizerkreuz), als für mutige Vorwärtsschritte. Sie setzten starke Zeichen für Aufbruch statt Blockade, für Verhandlungsbereitschaft statt Kompromisslosigkeit, für Kooperation statt Kampf im Bundeshaus. «Miteinander statt gegen einander.»
Die gestärkte neue Mitte, in der die jungen, konsensorientierten «Kleinparteien» GLP und BDP gehörig zulegten, fand starken Zuspruch. Beide sind Abspaltungen ihrer Mutterparteien (Grüne und SVP). Deren dogmatische, dualistische Politik hat die undogmatischen Kräfte quasi aus der angestammten Parteizentrale gesprengt. Das moderne Gedankengut lösungsorientierter Menschen hat sie nun nach oben katapultiert. Hier die Versöhnung von Ökologie und Ökonomie, dort jene von pragmatischem Aufbruch und achtbarem Konservativismus. Schweizerinnen und Schweizer wählten für ein Ende der kläglichen Polarisierungspolitik der letzten Jahre. Die Abwahl von Ulrich Schlüer ist konsequenter Beweis dieser These. Gemäss der neutralen Vimentis-Analyse vom 26. Oktober 2011 werden die personellen Veränderungen im Parlament bewirken, dass die Faktoren Umweltschutz, liberale Gesellschaft, stärkere aussenpolitische Öffnung, weniger strenges Rechtssystem zukünftig mehr Gewicht erhalten werden.
Zwei Aspekte dieser für Schweizer Verhältnisse doch spektakulären Wahl stechen heraus: Die Fehlprognosen vor und die Konkordanz-Beschwörungen nach den Wahlen.
Noch am 17. September 2011 schrieb die NZZ als Nationalrats-Wahlprognose für den Kanton Zürich: SVP, SP und Grüne konstant. Tatsächlich haben genau diese Parteien die drei Sitze verloren, die GLP und BDP dazu gewonnen haben. Auf die Feststellung des Interviewers, dass sich «an den Polen stabile Verhältnisse abzeichnen», antwortete der Statistiker Peter Moser: «Die Erfahrung lehrt, dass die Parteienkonstellation im Kanton Zürich sich generell nur recht träge verändert.» Eine Woche später titelt dann allerdings der TA die tatsächlichen Wahlresultate: «Grünliberale und BDP lassen fast alle anderen alt aussehen.» Und der Politologe Michael Hermann zeigt sich im TA vom 24.10.2011 «überrascht vom schlechten Abschneiden der SVP». Weiter: «BDP und GLP sind die perfekten Parteien für jene, die etwas Neues wollen, aber keine Veränderung.» Woher diese Weisheit? Da verkennt einer der medienpräsentesten Auguren wohl auch nach den Wahlen die Motivation vieler Wählenden: Genau diese Veränderung im Politalltag mit seiner Trägheit und Blockiertheit im Bundeshaus, genau das ist der Motivator jener, die etwas Neues wollen.
Bereits am Abend des Wahlsonntags stimmten SVP, SP und FDP und die ihnen gütlich gesinnten Medien das Hohelied der Konkordanz im Hinblick auf die anstehenden Bundesratswahlen an. Zur Erinnerung: SVP 2 Sitze, SP 2, FDP 2, CVP 1 – die 7 Bundesratssitze wären auf die vier wählerstärksten Parteien aufzuteilen. Es erstaunt nicht, dass deshalb die NZZ und der TA der amtierenden Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf schon mal den Verzicht auf die Wiederwahl nahe legten. Soweit die orchestrierten Sprüche bröckelnder Parteien: Macht gibt niemand gerne freiwillig ab. Peinlich dagegen die Haltung dieser Medien. Die NZZ: «Der Achtungserfolg der BDP ändert nichts daran, dass diese neue Kraft zu leichtgewichtig ist, um zu regieren». Jetzt wissen wir auch das.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings folgendes Bild: Diese 4 Parteien kommen neu noch gerade mal auf einen Wählerstimmenanteil von insgesamt 72,7%; ihr arithmetischer Anspruch ergibt aus dieser Sicht exakt 5 Bundesräte. Geradezu arrogant wirkt deshalb der Anspruch der FDP auf 2 Bundesratssitze. Die Partei, die innert 25 Jahren 40% Sitzverluste im Parlament verzeichnet, hat heute einen ausgewiesenen Anteil von exakt einem Sitz im neuen Bundesrat.
Die Wertschätzung, die Eveline Widmer-Schlumpf im Volk entgegengebracht wird, widerspiegelt die Volksmeinung, dass es sich die Schweiz nicht leisten kann, in diesen turbulenten Zeiten eine tüchtige, kompetente und erfolgreiche Bundesrätin abzuwählen. Ob also am 14. Dezember 2011 die Vereinigte Bundesversammlung das Volk vertreten oder doch die eigenen Machtansprüche höher gewichten wird, bleibt offen. So oder so ist das Konkordanzgeschwätz längst durchschaut. Die «Zauberformel» aus dem letzten Jahrhundert wird nicht mehr lange überleben.
Das Fazit dieser beiden Aspekte ist beachtlich: Nach wie vor sind Prognosen, die auf Erfahrung und Vergangenheit basieren, unzuverlässig, die happigen Überraschungen waren nicht prognostizierbar. Und was die «Konkordanz-Zauberformel» betrifft, zeigt die Reaktion der alten Machtelite, dass sie auch nach den klaren Fingerzeigen am Wahlsonntag den eigenen Machtanspruch vor den Willen des Volkes stellen.
Einer, der weder Bundespolitiker, noch Politologe oder Prognostiker ist, schrieb 2007 im Hinblick auf genau diesen Wahlsonntag: «Eine blockierte Politik hatte jahrelang in der Schweiz zu einer immer gefährlicheren St.-Nimmerleins-Verwerfung geführt. Dabei musste allen klar sein, dass wesentliche Grundzüge der schweizerischen Politik Ende des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur rückwärts orientiert, sondern auch wenig nachhaltig waren. Veränderte Rahmenbedingungen riefen nach neuen Bildern. Jetzt bröckelte das legendäre Links-Rechts-Schema unter den Augen unbelehrbarer Parteipräsidenten. Das Bild, das in den Feierstunden der Nation gezeichnet worden war, fiel aus dem Rahmen. Der Turnaround1 ereignete sich 2011.»
1Christoph Zollinger, 2008: «2032 – Rückblick auf die Zukunft der Schweiz»,
ISBN-Nr. 978-3-9523190-6-2.