Das Elend der Kriegsflüchtlinge aus Syrien lässt niemanden kalt. Die offenkundigen Probleme mit der generellen Einwanderung in die Schweiz drohen, uns, die Parteien und die Behörden zu überfordern. Versuch einer Auslegeordnung.
„Völkerwanderung“
2015 erreichten mehr als eine Million Flüchtlinge Europa. Dieses Jahr dürften es bedeutend mehr sein. Bereits sprechen viele von einer neuen Völkerwanderung, in Anlehnung an jene Menschenströme, die vor 1600 Jahren das einstige Römische Reich überschwemmten und letztlich untergehen liessen. Es scheint aus heutiger Optik, als hätten damals - anfänglich überschaubare - Zuwanderungsmassen mit der Zeit eine kritische Menge überschritten und die alte Ordnung der wohlhabenden, hochentwickelten römischen Zivilisation zersetzt. Die Integration der Fremden war zum kritischen Faktor geworden.
Zurück in die Gegenwart: ein neuer EU-Deal mit der Türkei soll ab sofort im Schnellverfahren irreguläre Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückbringen, um skrupellosen Schleppern das Handwerk zu legen. Damit wird die EU jedoch erpressbar von Präsident Erdogan, der seit langem von Menschenrechtskreisen kritisiert wird. Das Abkommen ist umstritten, der Ausgang ungewiss.
Einwanderungsland Schweiz, Faktenlage
Doch wie bekommen wir die Zuwanderung in unserem Land in den Griff? Wie soll die Flüchtlingspolitik in Zukunft gestaltet werden? Die Gratwanderung zwischen humaner Tradition, legitimer Selbststeuerung unserer Interessen und verständlichen Überfremdungsängsten ist heikel, um nicht zu sagen gefährlich. Das laute Geschrei polarisierender Parteipolitik bringt uns nicht weiter. Längerfristig müssen wir konsensfähige Lösungen finden.
Die Nettozuwanderung (Wanderungssaldo) in die Schweiz betrug 2015 71‘495 Personen (Vorjahr 78‘902). Seit 2002 (Personenfreizügigkeit mit der EU) ist der Wanderungssaldo angestiegen; er beträgt momentan jährlich grob ein Prozent der Bevölkerung. Bezogen auf die Bevölkerungsgrösse weist die Schweiz im Zeitraum von 1984 – 2007 die stärkste Zunahme der Immigration auf (OECD, Europa, USA). Der Ausländeranteil beträgt 22 Prozent, der höchste Wert – zusammen mit Luxemburg – in Europa.
Nicht berücksichtigt in diesen Zahlen ist die Anzahl Asylgesuche (2015: 39‘523 / 2014: 23‘765). Die Schweiz mit einer bisher liberalen Flüchtlingspolitik ist offensichtlich ein attraktives Land für Migranten (obige Zahlen stammen vom Staatssekretariat für Migration SEM, Bundesamt für Statistik BfS und aus dem Beitrag „Exodus – aber wohin?“ SCHWEIZER MONAT, November 2015).
Die Integration der Fremden ist zum kritischen Faktor geworden. Dies umso mehr, als viele von ihnen aus nichteuropäischen Kulturen kommen. Sie haben keine Ahnung von unseren demokratischen Strukturen, wie sollten sie?
Ratlosigkeit oder Radikalisierung
Es ist nüchtern festzustellen, dass die anschwellenden Flüchtlingsströme zu einem der grössten aktuellen Probleme Europas führen. Auch ohne „Willkommensstrategie“ oder „Grenzschliessung“ – beides Postulate mit Sprengwirkung – driften die Meinungen innerhalb der Gesellschaft immer mehr auseinander. Da sind die zivilisatorischen Grundwerte, die für offene Türen sprechen, dort das legitime Bevölkerungsbedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit.
In seinem lesenswerten Buch „Exodus“ schreibt Paul Collier: „Ist Migration gut oder schlecht? Die Kernaussage dieses Buchs lautet, dass dies die falsche Frage ist. Sie zu stellen ist ungefähr so sinnvoll, wie zu fragen, ob zu essen gut oder schlecht sei. In beiden Fällen geht es nicht um gut oder schlecht, sondern darum, wie viel gut ist. Aus diesem Grund sind Migrationsbeschränkungen keine peinlichen Auswüchse von Nationalismus und Rassismus, sondern in allen wohlhabenden Gesellschaften immer wichtiger werdende Werkzeuge der Sozialpolitik“.In der Schweiz wird die Migrationsthematik in letzter Zeit deutlich stärker wahrgenommen, doch die politische Diskussion ist weitgehend blockiert. Wie kann man alle involvierten Gruppen an einen Runden Tisch bringen? Diese wohl sehr naive Frage zu beantworten scheint trotzdem der Schlüssel zu einem Ausweg aus der Sackgasse.Was wir ändern können und was nicht
Viele unserer gesetzlichen Richtlinien sind hoffnungslos überholt. Das Gewirr zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden im Asylwesen wirkt irgendwie unwürdig und ist Ausdruck kollektiver Überforderung. Da der Bund den Kantonen für jeden Asylanten jährlich 18‘000 Franken überweist, ist dort fürs Finanzielle vorerst gesorgt. Allerdings belaufen sich die Durchschnittskosten pro Person heute auf rund 25‘000 Franken. Doch, je mehr kommen, desto weniger reicht dieses Geld. Denn am Schluss der Zuständigkeitskette stehen die Gemeinden, die für Unterkünfte (auf dem lokalen Wohnungsmarkt) zu sorgen haben und deren Sozialhilfekosten explodieren. Jeder Kanton regelt selber, wer, wie und unter welchen Bedingungen öffentliche Unterstützung bekommt. Die Zusammenarbeit aller involvierter Stellen (Migrationsbehörden, Sozialämter, IV-Stellen, RAV) ist ungenügend.
86 Prozent der insgesamt rund 80‘000 Asylpersonen (2010-2015) beziehen Sozialhilfe. Viele von ihnen sind junge, gesunde Männer, die wir täglich gelangweilt herumsitzen sehen.Wir können diese Situation ändern, indem wir die politischen Voraussetzungen schaffen. Den Exodus aus Krisenländern können wir nicht stoppen. Statt händeringend zuzuschauen – lichten wir wenigstens das helvetische Zuständigkeits- und Koordinationsgewirr in unserem Land!Warum dürfen oder können Flüchtlinge nicht arbeiten?
Einerseits beklagen wir uns über zu hohe Zuwanderung, andererseits dürfen oder können Flüchtlinge nicht arbeiten. Ein grotesker Widerspruch. Ein Beispiel aus der Landwirtschaft: Jährlich verpflichten unsere Bauern rund 30‘000 polnische und portugiesische Erntehelfer. Angesichts der Zuwanderungsinitiative würde man meinen, ein Grossteil davon könnte durch geeignete Asylsuchende ersetzt werden. 2015 konnten gerade mal 13 Einsätze vermittelt werden, die Bauern wollen nichts wissen von dieser Idee.
Arbeit statt Sozialhilfe fordert nicht nur Rudolf Strahm. Er sieht die Hauptaufgabe für diese politische Kehrtwende bei den regionalen Arbeitsvermittlungszentren. Diese personell aufzustocken, könnte uns billiger zu stehen kommen als Menschen fürs Nichtstun zu bezahlen. Die Gemeinden könnten arbeitsfähige Asylanten in geeignete Arbeitsfelder zuzuteilen. Theoretisch einleuchtend, dieser Vorschlag. Doch, ohne Zwang oder (finanziellen) Druck von oben läuft offensichtlich gar nichts. Es besteht dringender politischer Handlungsbedarf. Unser föderalistisches System ist – einmal mehr – überfordert.Hürden abbauen
„Die Asylsuchenden werden verwaltet, transferiert, ihre Vergangenheit wird gelöscht (Diplome und Berufserfahrung werden nicht anerkannt), sie leiden unter sozialer Isolation […], schrieb der Beobachter 2015 unter dem Titel „Sie wollen Arbeit, nicht Sozialhilfe“. Wir sind direkt betroffen. Statt zu sparen, würden z.B. Intensivsprachkurse kurzfristig zwar Mehrkosten verursachen, mittel- und langfristig Integrationssituation und Jobchancen für diese Menschen deutlich verbessern. Doch, wie läuft es diesbezüglich? Das Staatssekretariat für Migration testet bis 2018 (!) das Programm „Potenziale nutzen“. Bis 2018…!
55 Prozent der Asylanten sind unter 25. 8500 Lehrstellen können jährlich nicht besetzt werden – gleichzeitig lungern tausende junger Menschen in Asylzentren herum, gezwungenermassen.Das Problem mangelnder Integration der Migranten zufolge Arbeitslosigkeit ist übrigens ein europäisches. 2015 schrieb der Economist im sorgfältig recherchierten Beitrag „Getting the new arrivals to work“, dass Geschäftswelt und Flüchtlinge davon profitieren könnten, würde den Neuankömmlingen gestattet, früher zu arbeiten.Der Balanceakt
Die Schweiz kann die Flüchtlingsströme nicht stoppen. Sie kann auch keine Betonmauern längs der Grenze bauen und die Armee abkommandieren zu deren Bewachung. Von der EU ist keine Hilfe zu erwarten, diese durchläuft selbst eine existenzbedrohende Zerreissprobe, hin und her gezerrt zwischen Schutz der europäischen Aussengrenze oder Errichtung neuer, befestigter nationaler Grenzen.
Was wir tun können? Interne, ideologische „Grenzen“ (Meinungsdifferenzen) im eigenen Interessen überwinden. Ändern, wo wir uns selbst im Weg stehen (föderalistisches Durcheinander). Integration dieser Menschen erleichtern (Sprachkurse, Lehrstellen). Zusammenstehen statt gegeneinander polemisieren.Die laufende Asylgesetzrevision ist ein wichtiger Anfang. Trotz Opposition seitens der SVP ist zu hoffen, dass am 5. Juni 2016 ein JA resultiert – die Beschleunigung der Verfahren wird ja vom Bundesrat, von Kantonen und Städten und weiter Bevölkerungskreise seit langem gefordert.Ob Menschenströme oder Völkerwanderung, es passiert – wir spüren es – etwas Epochales. Kritisieren ist leicht. Sich vorzustellen, was passieren könnte, würden die europäischen Binnengrenzen hochgezogen - ein Horrorszenario. Schon dieser Gedanke könnte dazu beitragen, den Begriff Solidarität neu zu beleben. Gemeinsam statt gegeneinander – ohne politische Hintergedanken.
Literatur:
Paul Collier: „Exodus – Warum wir Einwanderung neu regeln müssen“, (2016)