Alle Jahre wieder. Die CS und in ihrem Auftrag das Forschungsinstitut gfs.bern erkundigen sich per repräsentativer Umfrage nach den fünf grössten Problemen der Schweizerinnen und Schweizer – diesmal im Sommer 2019 bei 2495 Stimmberechtigten – also, wo diesen der Schuh am meisten drückt und warum. Die Resultate werden anschliessend im CS Sorgenbarometer publiziert. Klar zuoberst stehen AHV/Altersvorsorge und Gesundheit/Krankenkassenprämien, auf die wir uns in diesem Beitrag konzentrieren. (Die drei anderen Sorgenblöcke sind: Ausländerinnen und Ausländer, Umweltschutz/Klimawandel, Arbeitslosigkeit.) Also zwei hausgemachte Dauerbrenner, die von den Befragten gleichzeitig mit Reformstau, Unzufriedenheit mit der Bundespolitik, Rückgang des Vertrauens in die politischen Parteien genannt werden. Was kann daraus geschlossen werden?
Peinlicher Reformstau
Immer mehr der Befragten ärgern sich über den helvetischen Reformstau. Führungsmangel beim Bundesrat, kompromisslose, blockierte Debatten im Parlament; erwartete, dringende Lösungen sind nicht in Sicht. Der Anteil der Unzufriedenen mit der Politik ist innert zwei Jahren von 24% auf 46% gestiegen. 83% sind der Meinung, die Exekutive müsse seine Führungsrolle besser wahrnehmen und 68% finden, das Parlament müsse mehr Kompromisse suchen. Dieser fatale Eindruck ist nicht unberechtigt, aber einigermassen niederschmetternd. Gräbt man etwas weiter in die Tiefe des eidgenössischen Humus, der die Wurzeln kreativer Lösungen bilden sollte, wird man fündig. Alle kritisierten Institutionen wachsen auf dem «Mist» der politischen Parteien. Diese haben stark an Vertrauen eingebüsst, innerhalb eines Jahres um 22 Prozentpunkte.
Wer sich nun den Kopf zerbricht, warum die politischen Parteien - der realisiert, dass es erstens für diese immer schwieriger wird, angefangen bei den Gemeinden, motivierte, kluge, kreative Köpfe zu rekrutieren. «Man» hat keine Zeit, die Arbeitgeber signalisieren Desinteresse an politischer Beteiligung ihrer Angestellten, die Idee der schweizerischen Milizarbeit bricht weg.
Zweiter Grund dürfte das Auseinanderklaffen von vergangenheitsgeprägter politischer Sprache (altmodisch, ideologisch, phrasenhaft) und modernem Lebensstil inkl. politischer Einstellung sein: Seit Jahrzehnten wird die politische Landschaft eingeteilt in ideologische Linke / neoliberale Rechte (und wenn’s hochkommt noch abwertend die unentschlossene Mitte).
Diese Sprache ist überholt, dualistisch. Der moderne Mensch des 21. Jahrhunderts lässt sich so schlicht nicht festnageln: er/sie ist z.B. fallweise für oder gegen staatliche Eingriffe oder marktwirtschaftliche «Lösungen». Am besten signalisieren diese Erkenntnis die Grünliberalen, die gegen den Klimawandel ankämpfen (grünes Anliegen), jedoch auf kreative, marktwirtschaftliche neue Lösungen setzen (liberaler Ansatz).
SP, SVP, Freisinnige verteidigen ihre Bastionen à tout prix, in klaren Momenten wohl selbst realisierend, dass die alten Doktrinen nicht mehr ziehen und sogar zu desaströsen Wahlresultaten führen können.
Niemand ist schuldig, alle sind Verursacher
Konklusion: der helvetische Reformstau ist eine Zeiterscheinung. Er ist das Resultat der uninteressierten Bevölkerung, der kurzsichtigen Wirtschaftsbosse, der statisch wirkenden politischen Parteien, der rückwärtsgewandten Branchenverbände, der kantonalen und eidgenössischen Parlamente und Regierungen, die mehrheitlich verwalten, statt kreative neue Lösungen formulieren oder mutig voranschreiten. That’s it! Allen diesen Playern ist gemeinsam: Verlustangst.
Wer wirklich sucht, der findet
Wer nochmals tiefer gräbt und die Wurzeln der Verlustangst analysiert, findet Erstaunliches, Überraschendes. Die uninteressierte Bevölkerung leidet bei den Jüngeren an der weitverbreiteten Zeiterscheinung «Generation Anxiety», bei den Älteren an «Job-Verlust-Angst». Jene, die sich weder zu den Jüngeren, noch zu den Älteren zählen, sitzen oft in der Status-Falle: aus Angst, an Ansehen oder Bewunderung zu verlieren, kaufen sie ausgerechnet «Offroader» («von der rechten Strasse abgekommen»), inzwischen von ihnen fälschlicherweise als «Erfolgssymbol» bewertet.
Die Angst bei den Wirtschaftsbossen ist hausgemacht. Wer vierteljährlich seine «Erfolgszahlen» meint medial verbreiten zu müssen, gerät verständlicherweise in Panik, wenn der Trend – statt immer weiter nach oben – auch mal nach unten zeigt. Wenn dann noch erfolgsabhängige Vergütungen und Marktanteilsverlust mit ins Spiel kommen, droht das persönliche Desaster-Szenario: frühzeitige Pensionierung im besten Fall, Verlust des Prestige-Jobs durch Mehrheitsentscheid innerhalb des Verwaltungsrates. Angst ist ein schlechter Ratgeber.
Seit den Wahlen im Herbst 2019 rumort es in den politischen Parteien. Am stärksten bei der Bauern-Partei, auch Volkspartei genannt. Aber auch anderswo. Die Wahlkampf-Themen haben sich in den letzten 10 Jahren abgenützt, die Bevölkerung ist es leid, trotzdem mit den alten Rezepten abgespeist zu werden. Gerade dieser Sorgenbarometer beweist es: das Thema «Ausländerinnen und Ausländer» (einer der fünf befragten Sorgenblöcke) ist innert Jahresfrist um satte 7 Prozentpunkte abgesackt. Statt nach Gründen zu suchen, fokussieren sich die Parteiverantwortlichen auf Pseudo-Schuldige: Parteipräsidenten, Kampagnen-Manager. Wer nicht sehen will, muss fühlen.
Die Spitzen der sturen Branchenverbände, die «Influencer» politischer Parteien, von Regierungs- und Parlamentsvertretern, liegen – wie das Beispiel des Bauernverbandes seit Jahren beweist – strategisch, ökologisch, nachhaltig am Schluss der Entwicklung. Vergleichbar mit einer Tour de Suisse (politisch statt sportlich verstanden) sehen wir im grossen Mittelfeld die Bauern selbst, am Schluss mit der roten Laterne der Vorstand des SBV, an der Spitze ein paar mutige Ausreisser mit zukunftskompatiblen Ambitionen und Ideen. Die Angst, den «helvetischen Status quo» zu verlieren, des auf Erhalt des Geldsegens durch das Parlament, resp. die Steuerzahlenden basierenden Sonderfalls, versteigt sich der «Ritter ohne Fehl und Tadel», der Vorstands-Boss, in unzeitgemässe Abwehrkämpfe.
Wie weiter?
Schuldzuweisungen bringen uns nicht weiter. Sie lenken ab vom Problem. Schweizerinnen und Schweizer haben es sich über die letzten zwei Generationen bequem eingerichtet im Schweizer-Haus. Nur keine Veränderungen! Wir sind doch so immer gut gefahren! Alle in diesem Beitrag angesprochenen «Players», also auch die sich sorgende Bevölkerung – hier vertreten durch die 2495 Befragten -, können aktiv etwas unternehmen für eine Klimaverbesserung: etwas weniger Egoismus?
Persönlicher, wirtschaftlicher, parteifokussierter, strukturerhaltender, karrieregeprägter, konservativer Egoismus?
Die Zukunft aller Menschen im Land wird auch finanzielle Opfer und Einbussen abverlangen, gerade in den Bereichen AHV/Altersvorsorge und Krankenkassenprämien.