Freude herrscht (©Adolf Ogi)! Immer wieder mal hören wir diesen Ausruf der Begeisterung. Im Familien- und Freundeskreis, nach Demonstrationen Federers oder Cuches auf Court und Streiff, am Vorabend der grossen Ferien. „Frieden herrscht!“ ist als populärer Ausruf weit weniger, ja – eigentlich gar nicht oft gehört. Dass wir in der Schweiz und Westeuropa seit 65 Jahren in Frieden leben, ist so selbstverständlich geworden wie fliessendes Wasser oder AHV. Bereits leben in unserem Land mehr als zwei Generationen, die den letzten Krieg nur noch vom Hörensagen kennen. Darüber allerdings, darf Freude herrschen! Dass dem so ist verdanken wir auch unseren Nachbarn, den EU-Staaten.
Wenn ich an dieser Stelle wieder einmal (siehe auch durchschaut! Nr. 27 vom 8. Juli 2010) das Verhältnis Schweiz – Europa thematisiere, dann deshalb, weil sich vor nicht allzu langer Zeit ein hoch geachteter Spitzenpolitiker der EU als verlässlicher Partner der Schweiz geoutet hat. Jean-Claude Juncker, Premierminister des kleinen EU-Mitglieds Luxemburg, meinte im Schauspielhaus Zürich vor vollen Publikumsrängen im Rahmen der Gesprächsreihe Zum Stand der Demokratie: „Ich bin kein Euro-Naiver, kein Euro-Idiot, kein Euro-Euphoriker und ich habe mir ein skeptisches Verhältnis zur EU bewahrt. Ich bin der grösste Schweizer, den es in Europa gibt.“
Schweizer Politiker tun sich schwer mit der EU. Zwar bestätigen sie gerne, dass „das Verhältnis Schweiz/EU die grösste politische Herausforderung im Jahr 2011“ sei, dann jedoch schweigen sie am liebsten. Woher kommt diese Verkrampfung, die einerseits EU-Turbos und andererseits EU-Gegner auf den Plan ruft, die sich in zwanzigjähriger Regelmässigkeit in Streitgesprächen gegenseitig unerbittlich bekämpfen? Freund und Feind – sie hören nicht, doch sie hören sich gerne reden. Johann Wolfgang von Goethe sagte vor rund 200 Jahren: „Dass nichts auch ohne sein Gegenteil wahr ist. Diese Erfahrung sollte uns alle verpflichten, den anderen, gegenteiligen Standpunkt zu respektieren. Sie muss uns verpflichten, die andere Meinung zu achten, weil sie der Wahrheit möglicherweise näher kommt als die eigene. Wir glauben an die Auseinandersetzung mit dem Ziel, den fremden, und vielleicht auch den eigenen, Standpunkt besser zu verstehen. Wir glauben an den durchaus harten, aber sachlichen Streit, aber wir glauben nicht an die Diffamierung des politischen Gegners. Wir glauben ganz entschieden und ausdrücklich nicht an Unterstellungen und ebenso wenig an unpassende Vergleiche. Wir glauben an die Kraft des Ausdrucks, aber nicht an Kraftausdrücke.“
Dieser Ratschlag ist längst verhallt. Kooperation statt Kampf ist kein medienwirksamer Aufruf. Doch gerade ein Europäer wie Juncker, der sich weigert, „Feind“ seines Gesprächspartner zu sein, könnte hilfreich sein, den „Kampf“ einiger Eidgenossen gegen unsere Freunde ennet der Grenzen zu entspannen. Im Jahr 2011 geht es nicht darum, ob die Schweiz der EU beitreten soll oder nicht. Vielmehr wäre es hilfreich, unverkrampft der Frage nachzugehen, warum die einen in der EU das alleinige Heil der Zukunft sehen und andere genau darin das sichere Untergangsszenario für Helvetien. Zur Debatte stehen dann plötzlich nicht Vorurteile, sondern unterschiedliche Menschenbilder. Da sind wir fundamental einer Meinung, vermute ich.
Menschenbilder sind eigentlich Weltbilder – Vorstellungen, wie eine Person sich die Welt vorstellt, wie er sie persönlich erfährt. Aus der Hirn- und Linguistikforschung des Amerikaners George Lakoff wissen wir zum Beispiel, dass die zwei Präsidenten der USA, Obama und sein Vorgänger George W. Bush die zwei amerikanischen wesentlichen Weltbilder par excellence repräsentieren: Hier das durch Empathie geprägte, visionäre und auf die Zukunft gerichtete Barack Obamas, dort das durch Autorität geprägte, konservative und vergangenheitsbezogene Bushs. Dass dabei unsere unbewussten Gedanken unser Alltagsleben weitgehend steuern, ist mittlerweile unumstritten. Diese Gedanken werden in unserem Hirn nach persönlichen Mustern konditioniert und nur innerhalb dieser Struktur können wir „frei“ denken. Wir schaffen uns sozusagen unser eigenes Weltbild und je weniger wir über diese neurologischen Zusammenhänge wissen, desto absoluter, unumstösslicher sind für uns, für viele Menschen, diese Erfahrungen. „So muss es sein – es kann nicht anders sein, dafür kämpfe ich.“ Damit sind wir wieder beim alten Menschenbild, dem durch Kampf (ums Überleben) dominierten. Längst hat die Hirnforschung aber bewiesen, dass – aus neurobiologischer Sicht – der Mensch ein Wesen ist, dessen zentrale Motivationen auf Zuwendung und gelingende mitmenschliche Beziehungen gerichtet ist. „Gene sind nicht egoistisch, sondern funktionieren als biologische Kooperatoren und Kommunikatoren“ ist denn auch eine der Hauptaussagen des bekannten Medizinprofessors Joachim Bauer (Universität Freiburg).*Unsere persönlichen Weltbilder (die viele mit „wahr“ gleichsetzen) sind in Tat und Wahrheit persönliche „Illusionen“. Darüber aber liesse sich jetzt vortrefflich streiten - oder eben nachzudenken, ohne Lärm, ohne Medien, ohne Gewinner und Verlierer.
*Mehr dazu im neuen Buch von Christoph Zollinger:
„Update nach 2500 Jahren – Epochaler Neubeginn“
(erscheint im Frühling 2011 an der Leipziger Buchmesse).