Ausnahmsweise beginne ich meinen Beitrag zum Jahresbeginn nicht mit dem Blick in die Zukunft, den Innovationen und Start-ups. Dies folgt in 14 Tagen. Die Gründe: die Wahl Trumps zum 47. Präsidenten der USA im November 2024 und – erfreulich – die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Pauluskirche Frankfurt im Oktober 2024. Gewinnerin war die polnisch-amerikanische Historikerin Anne Applebaum1 (siehe meinen Beitrag vor 14 Tagen). Was diese ausserordentlich klardenkende Frau uns anlässlich ihrer Laudatio zu sagen hatte, war eindrücklich und aufrüttelnd. Das Publikum dankte ihr mit Standing Ovations.
Warum nur?
Warum sind viele Menschen empfänglich für Botschaften von Ideologen, Lügnern, Milliardären, Märchenerzählern? Das fragte ich vor 14 Tagen und liess die Antwort über das Jahresende im Raum stehen. Vielleicht haben Sie darüber nachgedacht und Antworten gefunden. In den USA – da sind sich die Analysten einig – sind es vorwiegend jene Teile der Bevölkerung, die durch ihre trostlose wirtschaftliche Situation (Jobverlust), die hohe Inflation (Teuerung in den Supermärkten und bei Dienstleistungen) oder das diffuse Gefühl der Bedrängung durch die Migration (zu grosse illegale Einwanderung) unzufrieden, ja unglücklich sind. Sie sind verzweifelt, sogar wütend und radikalisieren sich allmählich.
Man kann durchaus Verständnis haben für diese «Looser» und auch dafür, dass sie einem Präsidentschaftskandidaten die Stimme geben, der ihnen eine bessere Zukunft, neue Jobchancen, kurz «Make America great again!» und «Ich bin eure Stimme!» verspricht.
Jetzt bleibt die Frage, warum es in der Schweiz Frauen und Männer gibt, die unverblümt und allen Ernstes ihre Sympathie für Trump kundtun. Dieser ist ein notorischer Schwätzer, hinter dem sich allerdings eine Figur versteckt, welche die Durchsetzung einer neuen politischen Ordnung vorantreibt, Er «beerdigt den Liberalismus […] und baut die Demokratie autoritär um» (Die Zeit). Sehen wir das? Realisiert das jener Bundesrat, der sich als Fan von Trump bekannte?
«Russifizierung»
Die völkerrechtswidrige Invasion der Ukraine durch russische Truppen auf Befehl von Wladimir Putin hat auch in unserem Land grosse Empörung ausgelöst. Seither lesen und hören wir täglich Schreckensmeldungen über das Kriegsgeschehen– doch sie werden irgendwie zur Routine. Sie sollten mehr sein, eine Warnung: Sie sollten bewirken, dass wir realisieren, welche grosse Gefahr auch für die kleine Schweiz (Nichtmitglied der EU) von dieser autoritären Willkürherrschaft des unberechenbaren «Zaren» ausgeht.
Es ist die Zerstörung sämtlicher Regungen einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung (Tages-Anzeiger). Nochmals: Was würde das für uns Schweizerinnen und Schweizer bedeuten? Wir mit unserer Wilhelm-Tell-Saga und der Idee, das demokratischste Land der Welt zu sein? Also verdrängen wir diese unbequeme Frage. Lieber helfen wir der Ukraine, vielleicht, wenn es unsere Neutralität erlaubt …
Unsere Neutralität
Helfen? Und unsere immerwährende Neutralität? Da stehen wir mitten in einer Debatte, angefeuert durch die SVP, welche die nationalkonservative Auslegung nach ihrem Gusto gleich in der Verfassung verankert haben möchte. Sie möchte dies mit einer Volksinitiative erreichen. Deren Konsequenz auf die Ukraine bezogen lautet: Wir müssten Angreifer und Verteidiger gleich (neutral) behandeln. Wollen wir das wirklich?
Nicht einmal die von der EU beschlossenen Sanktionen im Fall der Ukraine dürften wir unterstützen. Aus meiner Sicht ist das nicht Vaterlandsliebe, sondern Feigheit. So bekämpft man weder die russischen autokratischen Übergriffe noch den weltweiten Trend der Verbreitung von Autokraten. Wenigstens mental – wenn schon nicht aktiv – sollten wir realisieren, was solche ideologischen SVP-Vorhaben bewirken, diese sogenannte Unparteilichkeit …
Jetzt bleibt auch hier die Frage, warum es in der Schweiz Frauen und Männer gibt, die unverblümt und allen Ernstes ihre Sympathie für Putin kundtun. Die nach Moskau reisen und in ihren Leibblättern (Weltwoche, Nebelspalter) penetrant ihre Sympathie für einen Mann kundtun, der den Westen als Feind Nummer 1 erklärt. Gehören wir etwa nicht zum Westen?
Applebaums Botschaft
Anne Applebaum, die ausgewiesene Kennerin der gegenwärtigen politischen Trends und autokratischen Welle weltweit, fragt ihr Publikum, ob unsere Gleichgültigkeit gegenüber der Besetzung der Ukraine einen grösseren Einfluss gehabt habe, als wir denken. Denn schon vorher, bei der Besetzung der Krim durch russische Truppen, hätte die wirtschaftliche Zusammenarbeit westlicher Staaten mit Russland angedauert und damit dem Zynismus Vorschub geleistet.
Auch die bequeme Position des neutralen «Weder unterstützen noch verurteilen» ist in Applebaums Überzeugung nicht tolerierbar. Diese moralische Haltung, quasi über der Debatte zu stehen und lieber «Wir wollen Frieden» zu verkünden, ist heuchlerisch. «Seit fast einem Jahrhundert wissen wir, dass der Ruf nach Pazifismus angesichts einer aggressiven Diktatur oft nichts anderes ist als Appeasement und Hinnahme dieser Diktatur» (Tages-Anzeiger).
Verstehen wir?
Können wir uns überhaupt vorstellen, was die Aufoktroyierung autoritärer Willkürherrschaft in der Schweiz für uns heissen würde, habe ich eingangs gefragt. Die Bedrohung der Schweiz und der freiheitlichen Nationen Europas durch die aggressive Hitler-Diktatur im 20. Jahrhundert kann sich die ältere Generation in unserem Land noch lebhaft vorstellen. Damals kämpften Männer und Frauen direkt (Mobilmachung) und indirekt (Anbauschlacht) dagegen. Heute ist es die Ukraine, die für eine freie Gesellschaft kämpft – für eine unabhängige Justiz, das Recht auf freie Meinungsäusserung, Rede- und Versammlungsfreiheit.
Heute profitieren wir von genau 80 Jahren Frieden in Westeuropa. Nicht Pessimismus hat dazu geführt, auch nicht populistische Schalmeiengesänge, sondern die gemeinsame Überzeugung, dass die Zukunft eine positive, vielversprechende sein kann und dass Frieden in Freiheit immer möglich sein muss.
1 Applebaum, Anne (Winner of the Pulitzer Prize): «Twilight of Democracy – The Seductive Lure of Authoritarianism», 2020