Auch nach drei Monaten (durchschaut! Nr. 39), als an dieser Stelle über die Zukunft des Atomstroms nachgedacht wurde, dominiert das Thema unsere Gesellschaft, die Politik und die Medien. Ein hochinteressanter Prozess der Entscheidungsfindung ist in Gang geraten. Er wird noch lange andauern.
Unerhörtes ist geschehen: Am 25. Mai 2011 hat der Bundesrat (4 Damen, 3 Herren) beschlossen, in der Schweiz den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie anzutreten. Angela Merkel ist gar zur Reformerin wider Willen geworden: In Deutschland soll der Ausstieg früher, bis 2022, realisiert werden. In Italien- oh Wunder! – hat sich die Bevölkerung im Referendum vom Wochenende 11./12. Juni 2011 zu über 90% gegen den Bau neuer Atomkraftwerke ausgesprochen. Ob da „Frauen-Power“ massgeblich zu einem richtungweisenden Entscheid, zu einem Projekt von historischer Dimension beigetragen hat? Diese Frage ist natürlich sekundär vor dem Hintergrund, dass - erstmals seit Jahrzehnten – unser Bundesrat eine seiner wichtigsten Führungsrolle wahrnimmt: die der Zukunftsplanung der Schweiz. Und damit Frau und Mann gleichermassen überrascht.
Dabei geht in der medialen „Je-Ka-Mi-Berichterstattung“ gerne vergessen, dass nicht in erster Linie Handlungen im Zentrum der Problemevaluierung stehen, sondern deren Konsequenzen. „Moderne Risikokrisen konstituieren sich anhand solcher Kontroversen über Konsequenzen. Auch wenn manch einer eine Überreaktion auf das Risiko glaubt ausmachen zu müssen – globale Risikokonflikte haben tatsächlich eine aufklärerische Funktion. Sie destabilisieren die bestehende Ordnung und könne als ein lebenswichtiger Schritt zum Aufbau neuer Institutionen gelten.“ 1
Nicht unerwartet kann die Bevölkerung jetzt feststellen, dass die Reaktionen nach dem altbekannten Schema einer polarisierten Politik verlaufen, der Graben öffnet sich zwischen schroffer Ablehnung und überzeugter Zustimmung. Da kann es hilfreich sein, sich vorab in Erinnerung zu rufen: Solange man etwas zu retten versucht, was keine Zukunft hat, ist die eigene Innovationsfähigkeit eingeschränkt. Dabei sollten wir uns neu erfinden. (Dieser Grundsatz gilt übrigens auch z.B. für das schweizerische Bankgeheimnis). In unserem Fall der Energiepolitik heisst das: Solange die Energie-Lobby der Stromproduzenten die schweizerische Energiepolitik bestimmt, sind die Chancen einer neuen Energiewirtschaft nicht nur eingeschränkt, sondern werden laufend torpediert.
Der Verband der Schweizer Elektrizitätsunternehmen wirft dem Bundesrat jetzt sogleich vor, er gehe von falschen Annahmen aus. Die SVP befürchtet höhere Strompreise und warnt davor, dass die energieintensiven Branchen-Arbeitsplätze ins Ausland abwandern könnten. Economie Suisse, der Dachverband der Schweizer Wirtschaft, gefällt sich (nicht zum ersten Mal) in Panikmache: die Versorgungssicherheit des Landes sei in Gefahr. Gerold Bührer weiss es (auch wie immer) genau: „Der Entscheid des Bundesrates ist oberflächlich und unseriös.“
Bei den Befürwortern des Ausstiegs-Szenarios ist vorerst Erleichterung spürbar. Eine klare Mehrheit der Bevölkerung ist nicht mehr bereit, den Beteuerungen der Atomkraftbefürworter Glaube zu schenken. Die Sicherheit der Atomkraftwerke kann kein ernsthaft und neutral denkender Mensch garantieren. Und längst ist die Mär vom billigen Atomstrom durchschaut: Werden alle Kosten gerechnet, ist Atomstrom teurer als Solar- und Windenergie.
Der Bundesrat spricht von einem Aktionsplan mit 50 Massnahmen. Selbstverständlich werden diese zur Umsetzung Gesetzes- oder gar Verfassungsänderungen bedürfen. Wenn wir uns die Debatten im National- und Ständerat, die einer späteren Volksabstimmung vorausgehen werden, nur schon vorstellen, packt uns das nackte Grausen. Es werden Jahre verplempert werden in einer Sache, die unendlich folgenreicher ist als die Abzocker-Initiative.
Grundsätzlich ist festzustellen, dass – solange keine bundesweit gültigen Vorschriften kommen – in unserem Land der föderalistischen Kleinststrukturen der Masterplan für eine nachhaltige Energiezukunft chancenlos bleibt. „Wir brauchen den Fotovoltaikstrom nicht“, diese Aussage des Direktors eines kommunalen Stromlieferanten im Tessin steht stellvertretend. Dass wir in unserem Land von einer zentralen zu einer auch dezentralen Stromversorgung übergehen müssen, dagegen wehrt sich die betroffene Industrie verständlicherweise. Unlogisch wird es erst, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich die meisten Stromproduzenten im Besitze der Bevölkerung (z.B. der Kantone) befinden. Die Besitzer befürworten also den Umstieg, die Angestellten (Geschäftsleitungen) sind dagegen.
Da und dort wird jetzt auch munter fabuliert. Der Ausstiegsentscheid wird als emotional geprägt diskreditiert. Gefühl und Verstand werden – aus Unwissenheit – gegeneinander ausgespielt. Angst hätte zu diesem überstürzten und irrationalen Entscheid geführt. Wer dagegen überlegt und rational entschiede, würde keine solchen „Kurzschlussurteile“ fällen. Gefühl gegen Verstand, diese überholte Formel des 17. Jahrhunderts, ist inzwischen längst wissenschaftlich verstaubt.
Aus der Sicht des neuro- und kognitionswissenschaftlichen Menschenbilds werden alle unsere bewussten Entscheidungen und Handlungen vorbereitet und getroffen durch emotionale Vorgänge. Das emotionale Entscheidungssystem hat das erste und letzte Wort (Prof. Gerhard Roth). 95% unserer Aktivitäten sind zudem unbewusst determiniert. Was wir wahrnehmen, wenn wir eine Emotion empfinden, ist eine persönliche subjektive Reaktion auf einen Vorgang – nicht den Vorgang selbst (Prof. Mark Solms und Prof. Olivier Turnbull). Wer sich im Besitz der Wahrheit wähnt, unterliegt einem grossen Irrtum: Was für ihn die Wahrheit ist, ist in Tat und Wahrheit ein persönlich geprägtes metaphorisches Bild (Prof. George Lakoff). 2
Die Frage des Atomkraft-Ausstiegs ist zu schwerwiegend, als dass sie von Menschen entschieden wird, die mit dem überholten Wissen und antiquierten Denken von gestern politisieren. Einmal mehr gilt Albert Einsteins Rat: Wir können die Probleme nicht mit demselben Denken lösen, wie wir sie geschaffen haben.
1 Ulrich Beck, Vortrag vom 25.3.2010 im Rahmen des SIAF an der Uni Zürich.2 Mehr dazu in: Christoph Zollinger, „Update nach 2500 Jahren – EPOCHALER NEUBEGINN“, Europäischer Hochschulverlag Bremen.