Durchschauen, erkennen, handeln
In unserer transparenten Gegenwart verlieren überholte Rituale täglich an Bedeutung. Dank IT, Datenfülle und künstlicher Intelligenz (KI) durchschauen wir etablierte, aber nicht zielführende Gewohnheiten. Das sture Festhalten an überholten Positionen, das verantwortungslose Aufstacheln der Bevölkerung «gegen die da oben» oder «gegen das Establishment» dient dem Egoismus und Machterhalt jener Protagonisten, die den Zeitenwandel ignorieren.
Auch wenn es manchmal nicht so aussieht, zeichnet sich doch in unserer Zeit behutsam ein grundlegender Bewusstseinswandel ab. Dank den oben erwähnten technischen Errungenschaften erkennen wir vormals getarnte Handlungshintergründe mächtiger Persönlichkeiten (und solcher, die es gern wären) und haben wir zudem in den letzten Jahrzehnten gelernt, dass die fatale Fixierung auf Teile des Ganzen zu endlosen Kämpfen – im schlimmsten Fall zu Kriegen – führt.
«Was willst du, du kannst ja doch nichts ändern!», dieser gutgemeinte Zuspruch ist falsch. Wer festgefahrene Routine durchschaut und erkennt, welches die versteckten Gründe hinter einlullenden Parteiparolen und belehrenden Kommentaren von Chefredaktoren sind, der sollte nicht mit den Achseln zucken und zur Tagesordnung übergehen. Nein, er müsste Missstände entlarven, unsere Demokratie stärken und … handeln. Ganzheitliches Denken und Handeln ist ein Gebot unserer Zeit.
«Ich habe keine Zeit!»
Dieser stereotype Ausspruch «ich habe keine Zeit» charakterisiert in vier Worten, was wir im Alltag gedankenlos, ja oft zwangsweise, antworten – wenn wir etwas eigentlich gar nicht wollen. Gleichzeitig ist es ein Armutszeugnis. Es charakterisiert eine Zeitepoche, in der dem Begriff «Zeit» dessen qualitativen Aspekte weitgehend abhandengekommen sind.
Seit Galileo Galilei gilt: «alles messen, was messbar ist und alles messbar machen, was es noch nicht ist». Diese Reduktion auf die quantitativen Aspekte der Zeit hat dazu geführt, dass sie zu einer reinen Rechnungsgrösse degradiert wurde. «Durch diese Materialisierung hat sie im Laufe der letzten Jahrhunderte jenes extrem dualistische Denken heraufbeschworen, das in der Welt nur zwei gegensätzliche und unversöhnliche Komponenten anerkannt. Als gültig die messbaren, beweisbaren Dinge […], als ungültig die nicht messbaren Phänomene», (Jean Gebser: «Ursprung und Gegenwart»).
Dies führt uns – vielleicht - zur Idee, dass wir wohl ganz generell guttäten, den Werten, die nicht messbar sind, mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Das Bruttosozialprodukt (BIP)
Von der Theorie zur Praxis.: Eine international gebräuchliche Standardgrösse, die den Gesamtwert aller Güter, Waren und Dienstleistungen, die während eines Jahres innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft als Endprodukte hergestellt wurden (nach Abzug aller Vorleistungen) unter den Nationen vergleicht ist das Bruttosozialprodukt. Die Schweiz liegt auf Platz 20, misst man allerdings die pro Kopf- Leistung, stehen wir auf dem bemerkenswerten zweiten Platz der Welt.
Was und wie gemessen wird, ist jedoch längst obsolet. Was etwas kostet, wird registriert, was nichts kostet, ignoriert. Wenn also Holzhändler mit riesigen Maschinen den brasilianischen Urwald roden, wächst das BIP Brasiliens, weil diese Maschinen Geld kosten und die gefällten Bäume verkauft werden. Auch Verkehrsunfälle erhöhen das BIP, weil sie in der Folge Kosten auslösen. Umgekehrt «kostet» die Umweltverschmutzung theoretisch nichts und wird also im BIP nicht berücksichtigt. Auch die Arbeit einer Hausfrau/eines Hausmanns ist für diese Statistiker nichts wert. Wahrlich ein Denken aus dem letzten Jahrhundert.
Der geschätzte Ökonom und Philosoph Amartya Sen aus Indien hat schon im letzten Jahrhundert darauf hingewiesen, dass der Entwicklungsstand einer Volkswirtschaft nicht nur aufgrund des BIP festzulegen sei, sondern ausgehend von den Fähigkeiten ihrer Mitglieder. Als theoretischer Massstab wurde damals von der Uno der Human-Development-Index entwickelt – warum wohl ist die Aussagekraft des BIP in der Praxis bis heute nicht geändert worden?
Defizite der mental-rationalen Bewusstseinsstruktur
Leben wir in Zeiten eines epochalen Wandels? Einer der prägenden Faktoren scheint das Wiederaufkommen, das überall durchscheinende Bewusstsein für ein ganzheitlichen Denken und Handeln zu sein. Viele von uns engagieren sich bei der Bekämpfung ökologischer Defizite unserer Zeit. Die ökonomischen Dogmen des ewigen Wachstums zulasten der Natur und der Ausbeutung der Ressourcen geraten ins Wanken. Immer mehr produzieren – dank Kunstdünger und importierter Tiernahrung – in unserer eng begrenzten Landwirtschaft wird in Frage gestellt. Die Verschandelung unserer letzten Grünflächen durch neue Industrie- und Wohnüberbauungen wird immer häufiger abgelehnt. Diese Beispiele weisen alle in eine Richtung: Das Bewusstsein von unserer Verantwortung - der Verantwortung des Menschen – meldet sich gebieterisch zu Wort.
Die Covid-19-Epidemie tut das ihre. Der Glaube an Fortschritt und Machbarkeit ist etwas ins Wanken geraten, Kulturpessimismus und das Gefühl von Sinnlosigkeit erhalten da und dort Auftrieb. Wir erkennen – wohl oder übel – unsere Grenzen. Wie immer in Wendezeiten ist ein letztes Aufbäumen der defizienten Gegenwarts-Auswüchse weltweit sichtbar: So nimmt der Machtmissbrauch einzelner Potentaten immer mehr diktatorische, oft gar chaosartige Züge an.
Die Transparenz des neuen Zeitbewusstseins
Verschiedene Autoren sehen in der Entwicklung des Westens seit der Renaissance die Ursachen vieler heutiger Probleme. Das damalige naturphilosophische-naturwissenschaftliche Denken wurde durch die aufkommenden exakten Disziplinen (z.B. Chemie, Astronomie) abgewertet. Charakteristisch ist dafür die Auflösung der ursprünglichen Einheit und Ganzheit mit der Konsequenz der Subjekt-Objekt-Spaltung. Ferner erfolgte eine Degradierung des Sensitiven, Emotionalen zugunsten der Akzentuierung der quantitativen (mathematischen) Erkenntnisse.
Warum aber spricht z.B. Jean Gebser von einer neuen Durchsichtigkeit der Welt, wenn er sich Gedanken macht über die Manifestationen des neuen Bewusstseins, dem Fundament einer zukünftigen geistigen Haltung der Menschen? «Es handelt sich um ein Durchsichtigmachen des in der Welt und hinter und vor ihr Verborgenen, um ein Durchsichtigmachen unseres Ursprungs, unserer menschlichen Vergangenheit und der Gegenwart, die auch die Zukunft schon enthält».
Diese neue Qualität erhält in unserer Zeit einen fulminanten Schub. Erstmals sind Zeit und Raum Gegenstand des Wandels. Sowohl ist die Zeit mit der Gleichzeitigkeit der IT-Welt, als auch der Raum mit der Auflösung der Distanzen der Zoom-Konferenzen «dahingeschmolzen». Daneben ist die Transparenz als prägende Zeiterscheinung omnipräsent. Charakteristisch dafür sind «Whistleblowers», also Menschen, die sich eine vorher nie gekannte Ausprägung des Durchsichigmachens verborgener (verbotener) Praktiken zum «Beruf, zur Berufung» machen. Von all diesen technischen Möglichkeiten hatte Gebser allerdings keine Ahnung, umso bemerkenswerter dessen kreativen Wortschöpfungen, um das Neue verständlich zu machen.
Entweder / Oder!
Luciano de Crescenzo (18.8.1928 – 18.7.2019), Ingenieur aus Neapel, der sich die letzten 40 Jahren seines Lebens als begnadeter Schriftsteller mit rund 40 Büchern einen Namen machte, meinte in seinem Buch «Geschichte der griechischen Philosophie»: «Ganzheitliches Denken und Handeln befreit uns aus der Zwangssituation, zwischen zwei Lastern wählen zu müssen, da sich inzwischen die Tugend als Ausweg der Blockade anbietet.
Was meinte er? Der unentwegte Kampf (Krieg) hinterlässt immer Gewinner und Verlierer. Sucht man dagegen einen Kompromiss (Lösung), resultiert daraus eine Win/win-Situation. Als Folge davon wird ein weiterer beklagenswerter Gegensatz Freund / Feind obsolet: es entwickelt sich die positive Vorstellung des simplen Mitmenschen.
Der epische politische Kampf links gegen rechts - die «Linken» versus die «Rechten» - löst sich in Luft aus, aus der Mitte heraus entwickeln sich die akzeptablen Lösungen. Die Klassierung in ein linkes und rechtes Lager ist auch aus der Sicht des modernen Menschenbilds unhaltbar: Ein Mensch ist von Natur und Veranlagung her niemals links oder rechts. Er ist bei einer politischen Frage mal für mehr staatlichen Einfluss, ein anderes Mal für freiheitliches Markverhalten. Im 21. Jahrhundert ist ja auch der Zwang eines kirchlichen Verhaltenskodex, der seinen Gläubigen diktiert, was er zu «glauben» hat, vom Lauf der Zeit verdrängt worden.
Der sture Dualismus politischer Auffassungen und als Folge die unversöhnliche Polarisierung des «Volkes» – beides sind versteinerte Relikte, die in einer transparenten Welt an Bedeutung verlieren. Das Entweder / Oder als Manifestation der ausklingenden Epoche des rational/mental Geprägten macht Platz dem versöhnlichen Sowohl, als auch der anbrechenden Epoche des integralen Verständnisses.
Die alte Theorie der gerechten Mitte
Wenn sich in diesen schwierigen Coronazeiten nicht wenige Menschen fragen, ob wir uns tatsächlich inmitten eines epochalen Umbruchs befinden (wie z.B. die Renaissance später genannt wurde), so scheint es mir spannend, jenen gewaltigen Entwicklungsschub vor rund 600 Jahren kurz zu betrachten. Wie das Wort Renaissance ausdrückt, basierte das Denken auch auf der Wiederbelebung antiker Weisheiten der Griechen und Römer. Diese alten Erkenntnisse wurden weiterentwickelt und gaben die Basis für neue Impulse.
Aus den Lehren der alten Griechen greife ich Aristoteles’ Eudemische Ethik heraus. Sie kann auch für uns heute noch richtungsweisend sein. Die ethischen Tugenden (Ethos bedeutete im Griechischen Verhalten, Gewohnheit, Sitte, mit anderen Worten, was wir heute Verhaltenskodex nennen mögen). Aristoteles unterteilte die Tugenden in Vorzüge des Charakters und des Verstandes und leitete daraus die ethische Tugend ab: In der richtigen Mitte zwischen zwei Lastern. Als stellvertretendes Beispiel: Wenn man von Grosszügigkeit als ethischer Tugend spricht, so wären die beiden Laster einerseits die Verschwendung, andererseits Knauserei.
Wenn aus der Zeit der Renaissance die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg 1450 heraussticht, wie wäre es, wenn wir heute die digitale Kommunikation und die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (IT) setzen würden?
Könnten auch wir im 21. Jahrhundert auf solchen griechischen Erkenntnissen aufbauen und daraus kreative Lösungen zur politischen Deblockierung des unseligen Links und Rechts entwickeln? Quasi eine neue Ethik des digitalen Zeitalters? Im Sinne eines neuen Denkens, das alte Defizite zu überwinde hälfe? Kompromiss statt Kampf? Lösung statt Blockade? Kraftvolle Schweiz anstelle des zweigeteilten, an Ort tretenden Sonderfalls?
Fatale Folgen des alten Denkens
Abschliessend möchte ich Hans-Peter Dürr (1929 – 2014), deutscher – vielfach preisgekrönter – Physiker, Essayist und Querdenker zu Worte kommen lassen. In seinem 2009 publizierten Buch «Warum es ums Ganze geht – Neues Denken für eine Welt im Umbruch» weist der Vordenker darauf hin, dass die grossen Probleme unserer Zeit allesamt fatale Folgen eines überkommenen Weltbilds sind.
Basierend auf der Quantentheorie, welche das alte Denkgebäude der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts radikal veränderte, zeichneten sich plötzlich überraschende Möglichkeiten ab, alte Streitfragen der Physik miteinander zu versöhnen. «Es verlangt uns jedoch einiges ab, dieses neue Denken als Grundlage für Veränderungen unseres Selbst- und Weltverständnisses anzunehmen.» Das klassische alte, mechanische Weltbild, mit Fundament in der Renaissance und vom rationalen Denken geprägt, hatte ja echte Aufklärung, verlässliches Wissen «und praktisch die Aussicht auf eine unbegrenzte Beherrschung der Natur» eröffnet.
Dürr plädierte eindrücklich für ein neuen Denken in unserer Welt im Umbruch. Die alten Patentrezepte von Wachstum und Wohlstand lieferten keine Antworten auf den Klimawandel. «Wir denken immer noch in den Strukturen des 19. Jahrhunderts und kleben an der Illusion, dass es mit List und Tücke gelingen wird, die Welt in den Griff zu bekommen», mahnte er und riet zu einem Lebensstil der Teilhabe statt Beherrschung. «Ein Paradigmenwechsel steht an!»
Ganzheitlich Denken und Handeln, die richtige Mitte zwischen zwei unversöhnlichen Polen, warum es ums Ganze geht: Verschiedene Quellen verwenden unterschiedliche Worte, doch es geht immer um den goldenen Lösungsweg, um das Wissen in seiner Gesamtheit. Seit 2500 Jahren beschworen – eben solang von verschmäht…