1848 - Geburtsstunde der modernen Schweiz: Bundespräsident Ochsenbein erklärt in seiner Eröffnungsansprache an die Mitglieder der Revisionskommission zur Erarbeitung der neuen Bundesverfassung im Empire-Saal im Rathaus Bern, worum es geht. «Gefordert sind jetzt die Kardinalstugenden Konzessionsbereitschaft, Ausdauer und Mut – Mut, sich höchst unbeliebt zu machen…»*
Ein neuer Vertrag der Schweiz mit der EU
Ein neuer Vertrag der Schweiz mit der EU ist wichtig. Es sollte ein Zeitdokument werden nach dem Vorbild der Bundesverfassung von 1848, als sich die Mitglieder der Kantone trafen: Völlig zerstritten, ja verbittert, anfänglich kompromisslos, am Schluss, zum Teil schweren Herzens, alle einverstanden mit dem Ziel, ihren Beitrag zu leisten, um etwas bahnbrechend Neues zu schaffen. Verantwortungsgefühl und Sachverstand hatten über Vorurteile, Profilierungssucht und Egoismus gesiegt.
Die Ausgangslage ist klar
Noch bevor die Details zur Idee eines neuen Abkommens der Schweiz mit der EU bekannt sind, wenden sich die Rechts- und Linksaussen-Vertreter, die sich seit Jahren masslos selbst überschätzen, zu Wort. Der selbsternannte Retter der Nation, Christoph Blocher ist dagegen, der Gewerkschaftsführer Pierre-Yves Maillard ist dagegen. Sie beide kennen die Wahrheit, die Lösung, den einzig richtigen Weg. Ersterer ist dagegen, weil er als ehemaliger Industrieller weiss, dass wir diese EU-Verträge gar nicht brauchen und weil die EU Geld «Geld, Geld, Geld» will – so einfach ist das ja. Der Andere, der sich schon mit seiner Parole für die 13. AHV-Rente populistisch in Szene zu setzen wusste, überschattet schon den Beginn der Konsultationen mit Vehemenz und mit linker Rhetorik den Verhandlungstisch.
Ständemehr: Ja oder Nein
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist man sich in Fachkreisen uneinig darüber, ob bei der bevorstehenden Abstimmung diese dem Ständemehr zu unterstellen oder ob nur die Zustimmung des Volkes nötig sei. Diese Frage ist tatsächlich wichtig, denn es lässt sich erahnen, dass das Ständemehr letztlich das ganze Abstimmungspaket entscheiden könnte. Es gibt Europarechtler die dezidiert der Meinung sind, das Volksmehr genüge, doch gibt es auch Möglichkeit zu beachten, was in der Vergangenheit passierte.
Tatsächlich kann das Parlament die Frage entscheiden, ob ein Abkommen überhaupt Volk und Ständen zu unterbreiten sei. Der Bundesrat sprach sich vor Jahren schon dafür aus, dass ein völkerrechtlicher Vertrag dem Referendum zu unterstellen sei, wenn er entweder tiefgreifend in die verfassungsrechtliche Ordnung eingreife oder ganz einfach sehr bedeutende sachliche oder politische Gründe dafür sprächen. Dass es in diesem Fall zu einer Volksabstimmung kommen wird, ist allerdings klar und somit ist die Frage des Ständemehrs dringend vorgängig zu klären.
Die «fremden» Richter
Gegen die fremden Richter, die uns bei einem Ja zur Vorlage aufgezwungen würden, hätten wir uns mit Vehemenz zu wehren, argumentieren Gegner eines Abkommens seit jeher. Als wäre das Rechtsempfinden in Europa rund um unser Land herum grundlegend anders als hierzulande. Die Schweiz und das EU-Recht sind eine leide Geschichte. Doch bereits heute hat der Europäische Gerichtshof viel Einfluss auf unser Land – viel mehr als bekannt oder zugegeben wird.
So hat zum Beispiel die Netzgesellschaft Swissgrid, welcher der Zugang zu den europäischen Plattformen zum Energie-Austausch über die Grenzen durch die EU-Agentur Acer abgelehnt wird – solange die Schweiz ihre Beziehungen zur EU nicht neu geregelt hat – den Gang zu den europäischen Richtern in Luxemburg gewählt (Europäischer Gerichtshof - EuGH). Ausgerechnet zu den «fremden» Richtern, wie diese von der SVP bezeichnet werden. Überhaupt berufen sich die Schweizer Behörden schon heute oft und gerne auf dessen Urteile.
Auch beim Luftfahrt-Abkommen akzeptierte unser Land den EuGH als Gerichtsinstanz, ja wir haben ihn selbst einmal angerufen, als es um die Anflüge auf den Flughafen Kloten ging, welche Deutschland einschränken wollte. Der Fall ging zwar verloren, doch der Airport floriert weiter. «Auch Bundesrat und Parlament bedienen sich gerne beim europäischen Recht, das sie ordnerweise autonom nachvollziehen» (NZZ am Sonntag).
Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats (APK-N) sagte im Januar 2024 mit 16 zu 9 Stimmen Ja zum Mandatsentwurf (die SVP hat 9 Vertreter). Bekanntlich soll ein neuer Vertrag nicht mehr als Rahmen-Abkommen bezeichnet werden, sondern sollen die verschiedenen Verträge in Pakete verpackt werden. Zweifellos wird die Schweiz Konzessionen eingehen müssen.
Wie Konzessionen gehen
Um die Gewerkschaften für ein Ja ins Boot zu holen, wäre es angezeigt, wenn die Arbeitgeber ihnen die Hand reichen würden. Wenn die Gewerkschaften allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge möchten, um den Lohnschutz in der Schweiz zu sichern, ist dies insofern verständlich, als die Angst vor Lohndumping nachvollziehbar ist. Unsere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen befürchten wohl nicht zu Unrecht, dass Leute aus ärmeren europäischen Ländern ihren Job für viel weniger Geld machen würden. Gesamtarbeitsverträge werden von den Sozialpartnern in beidseitigem Einverständnis ausgehandelt, so dass nachher beide Seiten dahinterstehen können. So wäre es denkbar, dass hier eine Konzession, dort ein Einlenken erreicht würde – eine Win/win-Situation.
Gemeinsamkeiten zwischen der Schweiz und der EU
Statt jahrelang über unüberbrückbare Differenzen zwischen der Schweiz und unseren Nachbarn in der EU zu streiten, wäre es sinnvoller, die Gemeinsamkeiten hervorzuheben. Nachdem der Bundesrat im Dezember endlich signalisierte, einen Schritt für klare Beziehungen mit der EU zu befürworten, kann es ja losgehen. Der Gemeinsamkeiten besser bewusst zu werden meint auch zu tolerieren, dass uns einiges aus Brüssel unhelvetisch erscheint. Aber die Realität ist doch diese: «Die Schweizer Souveränität ist faktisch viel kleiner als formal. Dies gilt weit über die Verteidigungspolitik hinaus, wo die Schweiz seit Jahrzehnten faktisch unter dem Schutz der Nato steht, ohne sich dies einzugestehen» (NZZ). Schliesslich ist unsere Beziehung zur EU von überragender Bedeutung.
Oder möchte jemand verneinen, dass die Tendenz zur Internationalisierung von Problemen dagegenspricht? Wie mit Russland umgehen, wie mit China? Oder die Regulierung von Google? Wir müssten uns vielmehr fragen, ob wir als sogenannt souveräner Kleinstaat ausserhalb der EU wirklich über mehr Souveränität verfügen als als kleines Mitglied im Grossverbund. Denn tatsächlich haben wir und die EU heute schon viele Gemeinsamkeiten. Gestehen wir uns doch endlich ein, dass unsere Verhandlungspartner keine hinterhältigen Menschen sind, die uns böse wollen. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zählen (Ausnahme: Ungarn, resp. dessen Staatschef Orban) auch dort zu den zentralen Werten. Und schliesslich: Klimawandel und Flüchtlingsströme beschäftigen uns gleichermassen, sie machen keine nationalen Unterschiede.
Ein ungetrübter Blick auf die internationale Realität hilft uns weiter. Wie formulierte das Holenstein in seinem über tausend seitigen Standardwerk: «Schöpferische Akteure mit visionärer Weitsicht, mit Charakter, Mut und Energiekönnen in instabilen Zeiten struktureller Neuerungen generieren. […] Sie können die Zukunft bauen. Auber auch verbauen.»*
* Rolf Holenstein: «Stunde Null», Echtzeit Verlag, 2018